Buchbesprechung:
Bolton, Andrew u.a.: About Time: Fashion and Duration.
Ausst. Kat. The Metropolitan Museum of Art, New York. New Haven u. London, 2020. 400 S., 240 s/w Abb.
Vergangene Stile, Silhouetten und Dessins verschwinden nicht einfach auf Nimmerwiedersehen. Sie tauchen irgendwann – in mehr oder weniger – abgewandelter Form wieder auf. Die Modeentwicklung verläuft nicht linear. Wiederholung ist eine Konstante der Modegeschichte.
So lautet die zentrale Aussage des Katalogs „About Time: Fashion and Duration“, der Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung des Metropolitan Museum of Art (MET) in New York. Das Museum feierte 2020 sein hundertfünfzigjähriges Bestehen. Zum Jubiläum richtete das Kostüm-Institut – eine selbständige Einheit innerhalb des MET – eine Ausstellung über Vergänglichkeit und Dauer in der Damenmode aus.
Der Katalog verknüpft tiefschürfende theoretische Überlegungen mit der visuellen Anschaulichkeit von Modefotografie und unterlegt alles mit viel Poesie.
Einleitend referiert Andrew Bolton – Initiator von Ausstellung und Katalog – in einem Essay verschiedene Ansätze zum Thema Zeit. Für den Dichter Charles Baudelaire (1821-1867) sind Vergangenes und Gegenwärtiges deutlich voneinander geschieden; die Entwicklung verläuft linear und dynamisch. Für den Philosophen Henri Bergson (1859-1941) sind dagegen Vergangenheit und Gegenwart nicht eindeutig voneinander abzugrenzen. Die Zeitebenen wirken wechselseitig aufeinander ein, was er als „durée“ – im Englischen: „duration“ – bezeichnet. Der Bergson’sche Zeitbegriff schlägt sich im Titel von Ausstellung und Katalog nieder.
Baudelaires und Bergsons gegensätzliche Konzepte strukturieren in parallellaufenden Strängen die Bilderstrecke. Baudelaires Sicht wird mit 60 Kleidungsstücken, die zwischen 1870 und 2020 entstanden, in chronologischer Abfolge verdeutlicht. Alle sind schwarz. Das Bergson’sche Zeitverständnis wird von 60 Ensembles in Schwarz oder Weiß repräsentiert, die jeweils einem Kleidungsstück aus der Baudelaire-Linie gegenübergestellt werden, das zeitlich früher oder später entstand. Alle Ensembles stammen aus der Sammlung des MET; amerikanische Mode macht ein gutes Drittel aus. Die doppelseitigen, ausdrucksstarken Schwarz-Weiß-Fotos sind von Nicholas Alan Cope.
Jedem Foto-Tableau wird ein Zitat aus einem Roman Virginia Woolfs (1882-1941) vorangestellt, in dem es um subjektive Zeiterfahrung geht. Diese 60 Zitate bilden das narrative Gerüst des Katalogs.
Die poetische Dichte wird durch eine Erzählung des Pulitzer-Preisträgers Michael Cunningham noch erhöht, in der er Motive aus Woolfs Romanen variiert. Sie ist eine Auftragsarbeit für den Katalog.
Den Auftakt der Fotostrecke macht ein Tournürenkleid amerikanischer Provenienz von 1870, das mit einem 1939 entstandenen Abendkleid Elsa Schiaparellis (1890-1973) kontrastiert wird. Beide Modelle verbindet eine verblüffende Ähnlichkeit der Rückenpartie. Schiaparelli führt bei ihrem schmalen Abendkleid rückwärtige Stoffbahnen so geschickt zusammen, dass trotz des Verzichts auf stützenden Unterbau der Eindruck einer anmutigen Tournüre entsteht. Die Gewissheit des unmittelbar bevorstehenden Krieges hatte in den späten 1930er-Jahren in Pariser Modehäusern eine romantische Hinwendung zu Silhouetten des 19. Jahrhunderts gefördert.
Die Modegeschichte hält zahllose Beispiele für das Comeback vermeintlich überholter Silhouetten bereit, vom Reifrock über die Tournüre bis zum Keulenärmel. Beispiele liefern Vivienne Westwood, Viktor und Rolf oder Yohji Yamamoto. Selbst die während des Ersten Weltkriegs verbreiteten Tonnenrock-Kleider – knappe Oberteile, bauschige Hüften, enger Saum – sind noch nicht der Vergessenheit anheimgefallen. Die wenig kleidsame Konstruktion war der Notwendigkeit geschuldet, den Stoffverbrauch zu reduzieren. Bolton stellt ein Kleid amerikanischer Fertigung aus dem Jahr 1919 neben ein Gebilde von Rei Kawakubo für Comme des Garçons. Das in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstandene US-Modell gibt sich vordergründig bescheiden, denn es behält die von der Textilrationierung diktierten Konturen bei. Die Zurückhaltung endet allerdings bei Material und Verzierung: Seide und Perlen. Ähnlich agiert Kawakubo. Für ihr Tonnenrock-Kleid von 2012 verwendet sie Polyester-Filz, den sie dicht mit Pailletten besticken lässt. Das akzentuiert und versteift die Tonnenform, und das Ergebnis ist eines von Kawakubos typischen skulpturalen Modeobjekten.
Der amerikanische Modeschöpfer Charles James (1903-1978) war für die Idealisierung weiblicher Körperformen bekannt. Thom Browne parodiert 2018 ein typisches James-Kleid von 1951 durch die groteske Übertreibung der Proportionen. Ein Satin-Abendkleid von James aus demselben Jahr wird neben einem schwarzen PVC-Gebilde von Iris van Herpen aus dem Jahr 2012 platziert. Trotz unterschiedlicher Fertigungstechniken – hier 3-D-Druck, dort Handarbeit – wirken beide Kleider wegen ihrer exaltierten Formen theatralisch.
Ein bestechendes Beispiel für die Weiterentwicklung einer Verarbeitungstechnik liefert Issey Miyake mit seinem „Flying Saucer“-Kleid von 1994. Es ist aus synthetischem Futtertaft, sowohl vertikal als auch horizontal plissiert und lässt an eine Ziehharmonika denken. Ihm wird Mariano Fortunys (1871-1949) ikonisches „Delphos“-Seidenkleid von 1930 mit der vertikalen Plisseefaltung gegenübergestellt, die noch heute als bahnbrechend gilt. Offensichtlich wurde Miyake von Fortuny inspiriert, schuf jedoch Eigenständiges und Zukunftsweisendes. Beide Plissee-Kreationen verbindet über die Jahrzehnte hinweg ihre schwerelose Leichtigkeit.
Claire McCardell (1905-1958) war die Vertreterin des American Look. Sie erfand das Wickelkleid, den Bodysuit und das Prinzip der Separates. Drei McCardell-Modelle von 1934 werden mit Ensembles von Donna Karan aus dem Jahr 1985 verglichen. Karan übernimmt McCardells Gestaltungsprinzipien – Lässigkeit, Tragekomfort, Funktionalität, Modularität – ohne epigonenhaft zu sein.
Beim Betrachten der Vergleichspaare fragt man sich manchmal, wo die Grenze zwischen Nachahmung, Zitat und Neu-Interpretation verläuft. Silhouetten und Stilelemente sind Elemente des kollektiven Modegedächtnisses. Jeder kann daraus schöpfen. Doch wie weit darf das gehen? Wo fängt das Plagiat an? Dass freizügiges ‘Entleihen’ der kreativen Ideen früherer Designer-Generationen in den letzten 150 Jahren üblich war, wird durch Boltons Auswahl eindrücklich belegt.
Coco Chanel (1883-1971) nimmt im amerikanischen Mode-Gedächtnis eine singuläre Position ein. Ihr unprätentiöser Stil fand in den USA großen Anklang. Die Fotostrecke zeigt mehrere Modelle von Norman Norell (1900-1972), die eine auffallende Nähe zu ihren Kreationen aufweisen. Ein Norell-Partykleid von 1965 wirkt wie die leibhaftige Wiederauferstehung des Kleinen Schwarzen von Chanel aus dem Jahr 1925. Der einzige wahrnehmbare Unterschied besteht in schmaleren Konturen und einem kürzeren Rock bei Norell. Chanel selbst lehnte Mini-Röcke ab.
Als Karl Lagerfeld (1933-2019) zum Chefdesigner des Hauses Chanel berufen wurde, war die Modewelt gespannt auf seinen Umgang mit dem Erbe der Gründerin. Bolton stellt ein Chanel-Kostüm von 1963 neben eine Neu-Interpretation Lagerfelds von 1994. Der Designer behält Chanels charakteristischen Stil bei, frischt ihn aber mit neuen Materialien und Anleihen bei der Popkultur auf und lässt den Rocksaum so stark hochrutschen, dass Madame wohl vor Entgeisterung die Zigarettenspitze aus der Hand gefallen wäre.
Die theoretische Unterfütterung des Katalogs ist erhellend und anregend. Für die Erkenntnis, dass die Modeentwicklung nicht linear verläuft, hätte es ihrer jedoch nicht bedurft. Die Fotostrecke spricht für sich. Doch womöglich soll der Theorie-Unterbau vor allem beweisen, auf welch hohem Niveau sich der gegenwärtige Mode-Diskurs bewegt. In vielen Kunstmuseen wird Mode noch immer als Stiefkind behandelt, und Textilabteilungen genießen nicht das gleiche Prestige wie Gemäldegalerien. Dass sich das Kostüm-Institut als einzige Abteilung des MET selbst finanzieren muss, ist bezeichnend. Die Ausstellung und der anspruchsvolle Katalog könnten zu einer Neubewertung beitragen.
Der Katalog wurde im Februar 2020 gedruckt. Die Eröffnung der Schau war für Anfang Mai geplant. Wegen der Corona-Pandemie wurde sie auf Ende Oktober 2020 verschoben. Zwischenzeitlich hatte die „Black Lives Matter“-Bewegung an Bedeutung gewonnen. Das Kostüm-Institut reagierte schnell und entschieden. Es nahm mehr Schöpfungen von „People of Color“ in die Ausstellung auf, als ursprünglich vorgesehen, etwa von Shayne Oliver, Stephen Burrows und Xuly.Bët. Ein Viertel der Ausstellung wurde verändert, und manches musste weichen.
Chanels Kleines Schwarzes wurde in der Ausstellung nicht mehr mit der Version von Charles James kontrastiert – wie im Katalog –, sondern mit einem Entwurf Virgil Ablohs aus dem Jahr 2008 für sein Label Off White. In großer, weißer Helvetica-Schrift sind die Worte „Little Black Dress“ auf das Kleidungsstück gedruckt. Die Verwendung des weit verbreiteten Helvetica-Schrifttyps gehört zum Markenkern von Off White. Abloh spielt mit seiner Chanel-Interpretation darauf an, dass das Kleine Schwarze im Zeitalter der Massenproduktion nicht mehr das ist, was es einmal war.
Der Katalog spiegelt – gesellschafts- und modepolitisch gesehen – einen überholten Stand wider. Nicht alles ist von Dauer.