Im Frühherbst 2023 besuchte ich in der „FIT Gallery of Art and Design“ in Manhattan die ungewöhnliche Ausstellung: „The Unwearable Collection“.  Sie ging unter die Haut.

Ein großer Schriftzug an der Glasfassade der Galerie machte mit der merkwürdigen Frage „What Are You Wearing Today?“  auf die Design-Darbietung im Inneren aufmerksam.

Fassade der „FIT Gallery of Art and Design“.

Bei der Ausstellung ging es um die Visualisierung der ‘unerträglichen’ Zustände, die Menschen aushalten müssen, die unter der Krankheit Generalisierte Pustulöse Psoriasis (GPP) leiden. Bei GPP handelt es sich um eine extreme Art der Schuppenflechte (Psoriasis). Sie tritt in Schüben auf und kann lebensbedrohliche Formen annehmen. Plötzlich erscheinen am ganzen Körper schmerzhafte eitrige Blasen. Fieber, extreme Müdigkeit, Kopfschmerzen und ein brennendes Gefühl auf der Haut gehören ebenfalls zu den Symptomen. Mit fünf ‘Kostümen’ verdeutlichte die Ausstellung typische Zustände und emotionale Belastungen durch GPP. Die präsentierten ‘Kostüme’ sind im wahrsten Sinne des Wortes ‘untragbar’ und ausschließlich zur Demonstration des Leidens gedacht.

„The Unwearable Collection“ ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit des New Yorker „Fashion Institut of Technology (FIT)“ mit dem Pharma-Unternehmen Boehringer Ingelheim und dem holländischen Designer Bart Hess. Vor dem Entwurfsprozess wurden Gespräche mit Betroffenen von GPP geführt. Neben jedem ausgestellten ‘Kostüm’ war eine Tafel mit einem Zitat aus diesen Gesprächen angebracht. Darin beschreibt ein Leidender eine typische Phase seiner Krankheit und die damit einhergehende psychische Gestimmtheit.

Das Modell „Uncertainty“ soll das allgemeine Gefühl der Unsicherheit von GPP-Patienten ausdrücken. Jederzeit muss mit einem Ausbruch gerechnet werden, dessen Intensität und Verlauf nicht abschätzbar sind. Um diesem Zustand ein ‘Gesicht’ zu verleihen, wurden fester Tüll und flexibles Nylon-Mesh verwendet. Der Tüll umspannt den Körper eng und nimmt ihm seine Bewegungsfreiheit. Drumherum bauscht sich flexibles Nylon-Mesh, das wolkig und duftig wirkt. Ein Gefühl von Zwiespältigkeit und Instabilität wird hervorgerufen, das durch integrierte Splitter von Kristall und buntem Glas verstärkt wird. Diese Materialien können gleichzeitig schön und gefährlich sein, darin besteht ihre Widersprüchlichkeit.

„Uncertainty“, Entwurf Natalia Robles Oteiza, Urvi Selarka (beide FIT), Bart Hess.

GPP-Patienten leben im Bewusstsein eines jederzeit möglichen Ausbruchs, bei dem eine bedrohliche, schmerzbringende ‘Kraft’ den ganzen Körper überwältigen kann. Der Effekt einer solchen ‘Explosion’ wird im Modell „Flare Intensity“ durch die Verwendung farbiger Folie, die nach oben strebt, erzielt.

„Flare Intensity“, Entwurf Bart Hess.

Detail von „Flare Intensity“.

GPP-Schübe überfallen die Betroffenen mit großflächigen Schmerzen, die wie tausendfache kleine Schnittwunden erlebt werden, wie die Schnittwunden, die durch die scharfen Ränder von Papierblättern verursacht werden. Bei einem GPP-Schub sind sie allerdings tausendfach potenziert. Das Modell „Physical Pain“ ist aus Hunderten scharfkantiger Papierfetzen zusammengesetzt. Die Vorstellung, sich fortgesetzt daran schneiden zu können, ist bedrückend.

„Physical Pain“, Entwurf Bart Hess.

Für das ‘Kostüm’ „Pain of Isolation“ verwendete Hess eine reflektierende Folie, die mit Scherben aus Plexiglas umgeben wurde, um dem Gefühl der Isoliertheit, das GPP-Patienten erleiden können, Ausdruck zu verleihen. Das widerspiegelnde Kunststoffmaterial schafft Distanz und hält den Träger vom Rest der Welt getrennt. Die eingefügten Plexiglasscherben symbolisieren das brüchige Identitätsgefühl, das Menschen mit GPP empfinden können.

„Pain of Isolation“, Entwurf Bart Hess.

Das bedrückendste Stück der „Unwearable Collection“ trägt den unmissverständlichen Titel „Life Threatening“. Es besteht aus Dutzenden, vielleicht sogar Hunderten von Messern und Rasierklingen, die, geformt wie eine unheimliche, mörderische Riesenschlange, den Körper um- und einschnüren. So soll die Todesangst ausgedrückt werden, die GPP-Patienten während eines besonders schlimmen Schubs empfinden. Diese Leidensphase muss höllisch sein.

„Life Threatening“, Entwurf Bart Hess.

Detail von „Life Threatening“.

Es kommt selten vor, dass Textil- und Modedesign sich in den Dienst medizinischer Aufklärung stellen und mit ihren stofflichen Gebilden körperliches und emotionales Leiden verdeutlichen. „The Unwearable Collection“ zeigt, dass so etwas möglich ist. Sie veranschaulicht das große Potential, das Textil- und Modedesign haben. Bemerkenswert an der ‘unerträglichen Kollektion’ ist auch das Zusammenspiel von Akteuren mit unterschiedlichen Interessen und Motiven. Für Designer und Modestudenten war es eine Herausforderung, sich auf ein für sie unbekanntes Terrain zu begeben und zudem mit Materialien zu arbeiten, die dem Modedesign eigentlich fremd sind. Das Pharma-Unternehmen, das Medikamente für die GPP-Krankheit entwickelt und auf den Markt bringt, kann sich von seiner ethischen und gesellschaftlich verantwortungsbewussten Seite zeigen. Die Gruppe der GPP-Patienten kann sich verstanden fühlen. Nicht zuletzt wird dem Publikum vermittelt, was das Leiden an dieser Krankheit bedeuten kann.

Boehringer Ingelheim beabsichtigt, die fünf ‘unerträglichen’ Stücke der ‘Kollektion’ in anderen Zusammenhängen, etwa bei Ärztekongressen, zu zeigen.

„The Unwearable Collection“
Gallery of Art and Design, New York
14.09. – 15.10.2023
227 West 27th Street, New York, NY 10001

Fotos © Rose Wagner

Titelfoto: „Flare Intensity“.