Buchbesprechung:
Schnatmeyer, Susanne: Verflixt und Zugenäht. Textile Redewendungen gesammelt und erklärt.
Berlin, Edition Textile Geschichten, 2. Auflage 2016.
Worauf verweist die Bezeichnung alter Knacker? Auf einen alten Mann, der in der Spinnstube das gesponnene Garn auf die Knackhaspel wickelte, die nach einer bestimmten Anzahl von Umdrehungen ein knackendes Geräusch machte? Oder war jemand gemeint, dessen alte Knochen hörbar knackten?
Niemand kann das heute mehr mit Bestimmtheit sagen. Der Begriff kann seinen Ursprung in Spinnstube und Knackhaspel haben – oder auch nicht. Heute verstehen wir darunter einen älteren, gebrechlichen Mann.
Spinnen und Weben, Knüpfen und Nähen sind Jahrhunderte alte Tätigkeiten, die ihre Spuren in unserer Sprache hinterlassen haben. Manche Begriffe veränderten im Laufe der Zeit ihre Bedeutung; bei anderen geriet der ursprüngliche Sinn in Vergessenheit, so dass sie zwar weiter in Gebrauch sind, eine Zuordnung zu einem bestimmten Hintergrund jedoch nicht mehr möglich ist.
Susanne Schnatmeyer – von Beruf Juristin – betreibt seit einigen Jahren den Blog Textile Geschichten ( https://textilegeschichten.net/ ), mit dem sie zur Erhellung der textilen Kulturgeschichte beiträgt. Sie hat Dutzende von Redewendungen aus dem großen Feld des Textilen gesammelt, in denen sich Arbeitsbedingungen, Alltagserfahrungen, Gebräuche und Rituale widerspiegeln. In einem Buch, das sie selbst herausgegeben hat, erklärt sie die heutige Bedeutung dieser Redensarten und erläutert ihren ursprünglichen Entstehungszusammenhang.
Nicht selten steht Susanne Schnatmeyer vor einem Problem wie bei dem alten Knacker; eine zweifelsfreie Bestimmung des Hintergrundes ist nicht mehr möglich – auch nicht durch Heranziehung einschlägiger Wörterbücher. Doch selbst die Unschärfen und dunklen Seiten einer Redewendung werfen interessante Streiflichter auf die Kultur- und Sozialgeschichte des Textilen.
Ihr Buch ist in 11 Abschnitte gegliedert, die Tätigkeiten, Rohstoffen, Hervorbringungen – etwa Bänder und Schnüre – oder einem Berufsstand gewidmet sind. Jedem Abschnitt ist ein Aphorismus, eine Gedichtzeile oder ein Zitat aus einer aktuellen Pressemeldung mit einer textilen Redewendung vorangestellt.
Bundespräsident darf NPD-Anhänger Spinner nennen. Mit dieser Textstelle aus der Presseerklärung einer Nachrichtenagentur leitet Susanne Schnatmeyer den Abschnitt über das Spinnen ein. Ein Spinner war ursprünglich jemand, der Fasern aus einem Faserbündel zu Fäden verarbeitete. Meistens waren es Frauen und Mädchen, die in vormoderner Zeit in den Spinnstuben saßen und aus Rohfasern Garn sponnen. Im vertrauten Kreis erzählten sie sich Geschichten, Märchen und Gerüchte. Im Laufe der Zeit kam es zu einer Bedeutungsverschiebung des Wortes Spinner. Heute ist damit ein Mensch gemeint, der unglaubwürdige Geschichten erzählt.
Die Vielzahl der Begriffe, die im Bereich des Spinnens wurzeln, lässt erahnen, wie bedeutsam diese Tätigkeit einst war: Hirngespinst, kungeln, abwickeln, um den Finger wickeln, abspulen, verhaspeln, entwickeln… Susanne Schnatmeyers Erläuterungen machen die Sinnveränderungen nachvollziehbar. Die negative Bedeutung des Wortes Klüngel – Mauscheleien begehen – ist sprachkundigen Menschen bekannt; dass dieser Begriff auf das Spinnen verweist, wissen nur wenige. Der Klüngel war ein Fadenknäuel, das von außen nicht zu durchschauen war.
Auch bei manchen Begriffen, die aus dem Tätigkeitsfeld Weben kommen, ist die ursprüngliche Bedeutung in Vergessenheit geraten: etwas anzetteln, gut in Schuss, den Bogen raushaben, Shuttle… Der Shuttle ist im Englischen das Werkzeug, das den Schussfaden hin und her durch die Kettfäden bewegt. Dass als Shuttle heute auch ein Transportmittel bezeichnet wird, das zwischen zwei Orten hin- und herpendelt, leuchtet sofort ein, wenn man die ursprüngliche Bedeutung des Begriffes kennt.
In vielen Redewendungen, die mit dem Schneider zu tun haben, klingt eine Geringschätzung dieses Berufsstandes durch. Herein wenn´s kein Schneider ist, wird noch heute scherzhaft gerufen, wenn es an der Türe klopft. Ein Erklärungsansatz besagt, dass in früheren Zeiten Schneider beim Versuch, ihre Geldforderungen einzutreiben, oft nicht eingelassen wurden. Ein anderer Erklärungsversuch sieht den Ursprung darin, dass Schneider bei Zunftversammlungen nicht erwünscht gewesen sein könnten. Schneider standen am unteren Ende der sozialen Hierarchie der Handwerksberufe. Die Redewendung Frieren wie ein Schneider beschwört die Vorstellung eines fröstelnden Stubenhockers herauf. Schneider waren meist körperlich schwache Männer, und ihre Tätigkeit brachte nicht viel ein.
Beim Abschnitt über den Schneider hätte ich gern mehr darüber erfahren, wie es kam, dass gerade dieser Handwerksberuf in so schlechtem Ansehen stand. Es ist ein schöner Effekt des Buches, dass man den aufgenommenen Faden gern noch weiterspinnen möchte.
Susanne Schnatmeyer belegt mit ihrer Sammlung, dass Redewendungen mit textilem Bezug keineswegs antiquiert sind. Im Gegenteil. Etliche Begriffe aus der Welt des Textilen haben eine Karriere als Metaphern gemacht, die sich wegen ihrer Bildhaftigkeit für die Beschreibung komplexer moderner Phänomene eignen. Im Abschnitt Fäden führt die Autorin einige besonders überzeugende Beispiele an. Das geschickte Einfädeln des Fadens durch ein Nadelöhr geht dem Nähen voraus. Das Einfädeln in den fließenden Verkehr erfordert ebenfalls Übung und Geschicklichkeit. Der Thread ist ein Gesprächsfaden, der sich im Netz durch Gesprächs-Foren zieht wie der lange Faden durch ein Gewebe. Es ist typisch für neue Medien wie das Internet, dass Begriffe verwendet werden, die dem neuen Bereich im Prinzip fremd sind. Metaphern aus dem textilen Sachzusammenhang sind besonders anschaulich.
Rein sprachlich gesehen, ist die Geschichte des Textilen noch längst nicht am Ende.
Das Buch ist hübsch gebunden, mit farbigen Scans aus alten Musterbüchern illustriert, und es hat ein rotes Lesebändchen: hier ist der rote Faden mehr als bloße Metapher.