Buchbesprechung:
Vordemfelde, Karl-Wilhelm: Aufstieg und Niedergang der deutschen Herrenbekleidungsindustrie. Ein Rückblick auf Herrenmode aus Deutschland im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main, Deutscher Fachbuchverlag, 2015.

Die serielle Produktion von Herrenbekleidung blickt auf eine lange und erfolgreiche Geschichte zurück. Doch heute ist sie eine Industrie ohne Produktion in Deutschland. Wie es zu diesem Niedergang kam und welche Faktoren dafür verantwortlich sind, beschreibt Karl-Wilhelm Vordemfelde in seinem Buch.

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Der Autor weiß, wovon er spricht. Seine Familie ist seit über 100 Jahren eng mit der Geschichte der Herrenbekleidung verwoben – als reisende Handelsvertreter, Produzenten und Verbandsfunktionäre. Er selbst führt seit 30 Jahren das Unternehmen Wilvorst im niedersächsischen Northeim – gegründet 1916 von Wilhelm Vordemfelde in Stettin. Wilvorst hat sich auf festliche Herrenkleidung spezialisiert und gehört zu den wenigen, die noch einen Teil ihrer Kollektion in Deutschland fertigen.

Festliche Herrenmode von Wilvorst,  Serie Cool Cuts, 2013. Foto © Wilvorst

Festliche Herrenmode von Wilvorst,
Serie Cool Cuts, 2013. Foto © Wilvorst

Vordemfelde blickt aus der Perspektive des Produzenten auf die Geschichte der Herrenbekleidung, berücksichtigt jedoch auch den Handel und spart die Interessenkonflikte zwischen beiden Wirtschaftssphären nicht aus. In seiner Analyse spannt er den zeitlichen Bogen vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts bis hin zur Gegenwart und beschreibt die jeweils zeittypischen Produktions- und Arbeitsbedingungen.

Die serielle Herstellung von Bekleidung wurde erst durch die Entwicklung von Standardgrößen für das Militär möglich. Die Einkleidung mit einheitlichen Uniformen von fast 60.000 Soldaten des stehenden preußischen Heeres  konnte nicht mehr in der herkömmlichen Weise erfolgen.

Preußische Uniformschnitte. Foto © The New York Public Library Digital Collections

Preußische Uniformschnitte. Foto © The New York Public Library Digital Collections

Schneider fertigten in ihren Werkstätten nach individuellen Maßen und konnten keinen massenhaften Bedarf befriedigen. Die traditionelle Herstellungsweise war zeitaufwendig und teuer. Standardgrößen erleichterten den Zuschnitt und brachten neue Formen der Arbeitsorganisation hervor. Begünstigt – wenn nicht gar vorangetrieben – wurde diese Entwicklung durch neue Techniken und arbeitssparende Produktionsmethoden. Zu den wichtigsten gehörte das Bandmesser, das den gleichzeitigen Zuschnitt von mehreren Lagen Stoff ermöglichte.

Zuschneider mit Bandmesser, um 1912.  Foto © Wilvorst

Zuschneider mit Bandmesser, um 1912.
Foto © Wilvorst

Die Vermessung des Körpers und die Festlegung von Maßen sind bis heute Themen, welche die Bekleidungsindustrie umtreiben.

Einer der ersten Betriebe, in dem die Fertigung von Westen, Anzügen und Sakkos nach Standardgrößen erfolgte, wurde im Jahr 1874 in Aschaffenburg gegründet, dem ersten wichtigen Zentrum der deutschen Bekleidungsindustrie.

Zunächst fand die serielle Fertigung im Verlagssystem statt, mit Zwischenmeistern und Heimarbeit. Es wurde vom Werkstattbetrieb mit Nähmaschinensälen abgelöst; einher damit gingen ausgeklügelte arbeitsteilige Fertigungstechniken und neue Bezahlungssysteme (Akkord). Das Verlagssystem verschwand jedoch nie ganz und findet sich noch heute in manchen Teilen der Welt, in denen Bekleidung für den europäischen Markt gefertigt wird.

In ihren goldenen Jahren – ca. 1955 bis 1965 – hatte die deutsche Bekleidungsindustrie große Kapazitäten aufgebaut, die sich als überdimensioniert erwiesen, nachdem der kriegsbedingte Nachholbedarf gesättigt war. Deshalb drängten die Produzenten offensiv in andere europäische Absatzmärkte vor. In Deutschland gefertigte Bekleidung war jedoch wegen steigender Produktionskosten auf Dauer nicht mehr konkurrenzfähig, und es folgte die Verlagerung in Länder mit niedrigerem Lohnniveau.

Eine Minute Produktion schlägt in Deutschland mit ca. 70 Cent zu Buche, etwa zehn Mal so viel wie in Bangladesch. China – mit 9,00 Cent pro Minute – zählt heute zwar nicht mehr zu den Ländern mit dem niedrigsten Lohnniveau, doch es bietet Oberstoffe und Zutaten in befriedigender Qualität, so dass es sich für große Unternehmen – wie Peek und Cloppenburg oder C & A – weiterhin lohnt, ihre Eigenmarken in Größenordnungen von 100.000 Stück und mehr dort fertigen zu lassen. Mittelständisch strukturierte deutsche Unternehmen scheiden in der Regel als Abnehmer derartiger Quantitäten aus. Sie lassen in Südosteuropa und der Türkei produzieren.

Als schmerzlich empfindet Vordemfelde den Verlust des Know-how, der mit der Schließung der einheimischen Werke einherging. Deutschlands Textilmaschinentechnik – Pfaff, Adler und Dürkopp stehen dafür – und Fertigungsverfahren waren hochentwickelt. Beim Aufbau der Betriebe im Ausland wurde das in Jahrzehnten angesammelte Wissen 1:1 weitergegeben und ging an seiner Entstehungsquelle verloren.

Im Jahr 1966 existierten in der deutschen Bekleidungsbranche – Herren- und Damenkonfektion – 5.628 Betriebe mit 406.000 Beschäftigten. Im Jahr 1994 war die Zahl auf 1.389 Betriebe mit 113.000 Beschäftigten gesunken. In einer vom Autor erstellten Liste – sie zieht sich über drei Buchseiten – sind die Namen jener Unternehmen der Herrenbekleidungsindustrie verzeichnet, die bis 2014 vom Markt verschwunden sind.

Parallel zu den Veränderungen auf der Produktionsseite wandelte sich auch das System des Handels. Veränderte Lieferzyklen, neue Systeme der Lagerhaltung, Einkaufsverbände von Händlern sowie Praktiken wie die Kommission führten zu dem, was für Vordemfelde eine komplette Risikoverlagerung vom Handel auf die Industrie ist. Er beschreibt, wie große Einzelhändler ihre Interessen gegenüber den mittelständischen Produzenten durchsetzen und beklagt eine Verrohung der Sitten in der Bekleidungsbranche, die auch zu Lasten der kleinen Einzelhändler gehe.

Die Preisgestaltung des Handels führe zu der absurden Situation, dass die Herstellung des eigentlichen Produkts im Endverkaufspreis geringer bewertet werde als die Leistung des Handels. In dessen Kalkulation flössen die Kosten der Warenpräsentation und für prachtvolle Verkaufspaläste in unverhältnismäßiger Weise ein. In verfehlten Kalkulationsmethoden sieht Vordemfelde mit einen Hauptgrund für den Niedergang der deutschen Herrenbekleidungsindustrie.

Bitter rechnet der Autor mit der Politik ab, die nichts oder zu wenig getan habe, um den Niedergang aufzuhalten. Für sie sei die Bekleidungsindustrie nicht systemrelevant gewesen. Industrien wie der Bergbau seien dagegen über Jahre mit Milliardenbeträgen subventioniert worden. Bitter auch das Urteil über die Fachverbände German Fashion sowie Gesamtverband Textil und Mode Deutschland: Sie hätten sich zu einer Interessenvertretung für importierende Firmen entwickelt.

Vordemfelde macht es sich nicht so einfach, alles auf andere und auf die Globalisierung zu schieben. Bei manchem Unternehmen, das vom Markt verschwand, habe es auch selbstverschuldete Kapital-, Mode- oder Führungsfehler gegeben.

Karl-Wilhelm Vordemfelde. Foto © Wilvorst

Karl-Wilhelm Vordemfelde.
Foto © Wilvorst

Das Buch ist in der spröden Diktion des Juristen verfasst und zieht einen nicht auf Anhieb hinein. Doch hat man sich erst einmal eingelesen, entpuppen sich Themen, die auf den ersten Blick wenig interessant wirken, als ausgesprochen spannend. Besonders erhellend waren für mich die Passagen über das Handelsgesetzbuch sowie über Preiskalkulation und Handelskonditionen. In deren konkreter Gestaltung spiegeln sich die Machtverhältnisse in einem hochkomplexen Wirtschaftsbereich wider.

 

Titelbild:
Herrenmode, Werbeanzeige, 1908. Foto © Digitale Sammlung New York Public Library