Buchbesprechung:
Nora Gomringer: Moden.
Dresden und Leipzig, Verlag Voland & Quist.
Mit Illustrationen von Reimar Limmer. 56 Seiten, 1 CD

Eine Clutch ist eine „Tasche, die keine Form hat, außer die eines unbestimmten, / viel zu großen Briefes“ diagnostiziert das lyrische Ich im Gedicht „Clutch“. Die Kuverttasche „begleitet Frauen in den Ausgang. / Nicht eine könnte alles, / was sie möchte, darin unterbringen“.

Genauso ist es. Man sieht förmlich vor sich, wie Haustürschlüssel, Lippenstift, Taschentuch und Handy in die viel zu kleine Tasche hineingepresst werden. „Nicht eine Frau hat diese Tasche / auf Anhieb je geschlossen“.

Clutches sind in Mode.

Um Moden und Mode geht es in den 25 Gedichten des Lyrikbändchens „Moden“ von Nora Gomringer. Es geht um das, was uns kleidet und was dahinter steckt, um Sehnsüchte, Absurditäten und Abgründe.

Nora Gomringer. Foto © Judith Kinitz

Nora Gomringer. Foto © Judith Kinitz

Nora Gomringer – Jahrgang 1980 – gehört zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und ist mit etlichen Literaturpreisen ausgezeichnet worden. „Moden“ ist ihr achter Lyrikband und zugleich die Vollendung einer „Trilogie der Oberflächen und Unsichtbarkeiten„.

Die Gedichte Nora Gomringers sind wegen ihrer Fülle an intertextuellen Bezügen – explizit markiert oder implizit und versteckt – äußerst voraussetzungsvoll. Die verschiedenen Bedeutungsebenen sind manchmal nur durch die Kenntnis der Populärkultur zu entschlüsseln, nicht allein durch bildungsbürgerliches Wissen. Die spezifische Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit dieser Lyrik kann für die Rezipienten Reiz und Ansporn sein oder eine Hürde bilden, deren Überwindung Anstrengung kostet oder die gar unmöglich ist, weil die popkulturellen Referenzen nicht in jedem Fall enträtselt werden können. Doch allein schon die kunstvolle Komposition der Gedichte und ihre reiche Bildlichkeit machen sie zu etwas Besonderem.

Die Gedichte umspannen geografisch und zeitlich Kontinente und Jahrhunderte. Da tauchen der mittelalterliche europäische „Bader“ auf, der sich auf Heilkunst und Schönheitspflege versteht, die in Seide gehüllte japanische „Geisha“, die ihre Talente verkauft, und im Gedicht „Nichts. Wirklich Nichts“ näht die zwölfjährige Sheila in der Textilfabrik eines Billiglohnlandes im Akkord T-Shirts für diejenigen, die „seufzen, sie hätten nichts, wirklich nichts / mehr anzuziehen“.

Das erste Gedicht „Karl. Vivienne. Marc“ ist mit vier Strophen das längste des Bändchens und setzt für alles weitere den Ton mit den für Gomringer typischen Stilmitteln: Alliterationen, Akkumulationen und Metaphern.

Das lyrische Ich dieses Gedichts ist eine junge Frau, die sich als „Fadenscheinige“ ausweist und den Modebetrieb kritisch kommentiert: „Die Jahreszeiten sind Saisons / und damit immer Nadelkissen voller Eitelkeiten. / An Modepuppen wird drapiert, gerafft; / gezwickt, gestrafft wird an den Echten“. Die „Fadenscheinige“ ist vertraut mit der Modeszene und lässt lässig die Vornamen von Designern fallen: „Stella, Michael, Victoria“.

Wenn es über die Designer „Karl. Vivienne. Marc“ heißt, sie seien wie die „drei Erben eines Lear“, die „unterschiedlich ihre Gaben“ bereiten, werden gebildete Leser sofort an die drei Königstöchter in Shakespeares Drama denken. Wer sich in der Populärkultur auskennt, wird auch die folgenden Verszeilen entschlüsseln können: „Manolo rötet wieder Sohlen / und Carries junge Schwestern bloggen, / posten, chatten, kommentieren dieses Karmesin.“ „Carrie“ ist Carrie Bradshaw, die Protagonistin der TV-Serie „Sex and the City“, die verrückt war nach den High Heels mit den roten Sohlen von Manolo Blahnik, der wiederum durch diese Filme populär und zum Star der internationalen Modeszene wurde.

Heiteres und Ironisches – in „Clutch“, „Vom Zirkusleben“, „Dirndl“ oder „Abschied vom emanzipierten Rock“ – und Düsteres halten sich in „Moden“ die Waage.

In „Hair. Long as God Can Grow it“ lösen der Anblick ausgefallener Haare beim lyrischen Ich düstere Assoziationen aus: „Die Haare der Geschorenen von Auschwitz / in Vitrinen so weit das Augen reicht, / sie lassen nicht zu, dass ich nur ein Follikel / trauernd weichen lasse“.

Derart explizit geht es im Gedicht „Elfriede Gerstl“ über die Wiener Jüdin und Dichterin nicht zu. Gerstl war im „Dritten Reich“ in einem Versteck der Vernichtung durch die Nationalsozialisten entgangen. In ihrem späteren Leben wie in ihrem Schreiben spielten Kleider eine eminent wichtige Rolle. Das macht Nora Gomringer in ihrem Gedicht über die bewunderte Dichterin zum Thema.

Makaber geht es in „Eds Liste“ zu. Wer nicht weiß, wer dieser „Ed“ ist, dessen Nachname ungenannt bleibt, wird bei Verszeilen wie „Strahlender Lampenschirm / Aus Haut, Knorpel, Knochen“ unwillkürlich an Vernichtungslager und monströse Experimente denken. In dem Gedicht geht es jedoch um den amerikanischen Massenmörder Ed Gein, der aus der Haut seiner Opfer Masken, Möbelüberzüge, Gürtel und Lampenschirme fertigte. Gein lieferte das Vorbild für die Figur des Massenmörders Norman Bates im Film „Das Schweigen der Lämmer“.

Der Klangreichtum der Gedichte, der Rhythmus ihrer Verse und Strophen und das lautmalerische Potential mancher Wörter werden beim Sprechen ‒ vor allem bei Gomringers eigener Rezitation ‒ besonders intensiv erlebbar. Wenn sie das Wort „Clutch“ im gleichnamigen Gedicht scharf und kurz intoniert, glaubt man das Schließen des metallischen Schnappverschlusses zu hören.

Dem Gedichtband ist eine CD beigefügt, die man unbedingt hören sollte.

Nora Gomringer. Narzissmus. Foto © Judith Kinitz

Nora Gomringer. Narzissmus. Foto © Judith Kinitz

Jedem Gedicht ist eine ganzseitige Illustration von Reimar Limmer gegenübergestellt. Seine Collagen und Fotomontagen sind mehr als schmückendes Beiwerk. In ihrer kühlen Expressivität verstärken sie die Aussage der Gedichte und bieten auch einen Schlüssel zum Textverständnis.

Das Vorsatzpapier des Lyrikbandes ist als Schnittmusterbogen gestaltet, und das bunte Umschlagbild ist im Original eine Handarbeit der Stickkünstlerin Daniela Hoferer mit dem Titel “Stream of Consciousness”. Daniela Hoferer ist auch das letzte Gedicht gewidmet.

Buchcover. Stickbild "Stream of Consciousness" von Daniela Hoferer. Foto © Voland & Quist

Buchcover. Stickbild “Stream of Consciousness” von Daniela Hoferer. Foto © Voland & Quist

Beim schnellen Durchblättern des Büchleins denkt man unwillkürlich an ein Modejournal, das man immer wieder gern in die Hand nehmen wird, weil es so ansprechend gestaltet ist. Aber es ist anregender und tiefgründiger als jedes Modejournal.

Für die Überschrift wurde eine Verszeile aus dem Gedicht "Elfriede Gerstl" abgewandelt.