Ausstellung:
InselWesen. InselAlltag > 25.08.2017 – 02.04.2018
Trachtenshow > 11.11.2017
Museum Europäischer Kulturen, Staatliche Museen zu Berlin
Man glaubte, einem Kammerspiel beizuwohnen, als Helga Wögens und Kerstin Christiansen von der Trachtengruppe Utersum auf der Nordseeinsel Föhr in einer Trachtenshow das Anlegen einer vollständigen Festtagstracht vorführten. Beide engagieren sich ehrenamtlich in der Trachtengruppe Utersum, Wögens als Vorsitzende, Christiansen als Tanzleiterin. Im Alltag ist erstere Bäuerin auf einem Öko-Bauernhof, letztere arbeitet als Reiseverkehrskauffrau.
Die Trachtenshow fand im Museum Europäischer Kulturen im Rahmen der Ausstellung InselWesen. InselAlltag statt. Die Kuratorin, Irene Ziehe, führte in das Ankleide-Ritual ein.
Ein Kleiderständer, ein Stuhl und ein Tisch mit Requisiten – Schmuck, Unmengen von Haarnadeln und Stecknadeln, zwei seidene Tücher – bildeten die Bühne der Trachtenshow. Im Publikum überwogen die Frauen.
Wer miterlebt hat, wie langwierig und kompliziert das Anlegen einer vollständigen Tracht ist, versteht, warum sie nur noch zu besonderen Anlässen getragen wird.
Es muss gefältet, drapiert, gesteckt, arrangiert, geflochten und gebunden werden. Kerstin Christiansen ging Helga Wögens zur Hand. Christiansen war bereits in eine komplette Festtagstracht gehüllt, die dem modischen Stand der Zeit von 1850 bis 1870 entspricht.
Erfahrung, geschickte Hände und hohe Konzentration sind beim Anlegen einer Tracht unbedingt erforderlich.
Traditionelle Trachten entstammen einer längst vergangenen Zeit und sind nicht für die Anforderungen des modernen Lebens gemacht, doch gerade das macht einen Teil ihrer Faszination aus.
Man kann nicht einfach in eine Tracht hineinschlüpfen. Die einzelnen Teile müssen in einer vorgegebenen Reihenfolge und Anordnung angelegt werden. Nichts ist beliebig bei einer Tracht.
Nicht nur das Legen und Stecken der Tücher muss gelernt werden, sondern auch das Ausbessern, die Pflege und Reinigung der Kleidung. Nach Gebrauch müssen die wollenen Röcke geklopft, gebürstet und gelüftet werden. Moderne Textilien sind einfacher zu handhaben.
Trachten stehen für eine ständische Gesellschaft und eine klar geregelte soziale Ordnung, für eindeutige Geschlechterverhältnisse und die Betonung von Weiblichkeit.
Im Gegensatz zur Mode in einer globalisierten Welt sind Trachten auf eine konkrete Region ausgerichtet. Das macht sie trotz ihrer Uniformität unverwechselbar. Sie sind ideal für das touristische Marketing.
Auf Föhr existiert nur für Frauen eine einheitliche Tracht. Sie wird in der weiblichen Linie weitergegeben. Helga Wögens, Kind einer Flüchtlingsfamilie aus dem Osten, hat in eine friesische Bauernfamilie eingeheiratet und erhielt die zur Tracht passenden Tücher sowie eine Schürze von der weiblichen Verwandtschaft. Zur Hochzeit steckte ihr Mann ihr die obligatorische rote Haube auf. Alles andere nähte Helga Wögens nach alten Vorlagen selbst. Bei einer Größe von 190 cm passt ihr längst nicht jedes überlieferte Trachtenteil.
Kerstin Christiansen besitzt noch Teile der Sonntagstracht ihrer Urgroßmutter und musste ebenfalls Änderungen vornehmen. Für notwendige Anpassungen wird Material von aussortierten Trachtenteilen verwendet. Vollständig überlieferte Trachtenensembles sind selten, meist sind sie aus verschiedenen Beständen zusammengesetzt.
Eine Männertracht ist auf Föhr nicht überliefert. Die Männer der Insel gingen seit dem 17. Jahrhundert auf Walfang und Robbenjagd. Nach dem Rückgang des Walfangs um die Mitte des 18. Jahrhunderts verlegten sie sich auf die Handelsschifffahrt. Die Männer waren monatelang auf Fahrt und trugen die in den jeweiligen Hafenstädten gebräuchliche Kleidung. Die Waljäger und Robbenfänger brachten von ihren Fahrten Seidentücher, Stoffe und Silberschmuck mit. Der Wohlstand, den der Walfang brachte, schlug sich in der Kleidung nieder. Die bis dahin übliche altertümliche und unförmige Tracht verwandelte sich durch die Einflüsse von außen.
Es gab eine Tracht für den Alltag, den Sonntag und für hohe Festtage.
Die schlichte Alltagstracht wurde zur Haus- und Feldarbeit getragen. Sie kam vor dem I. Weltkrieg aus der Mode. In abgelegenen Dörfern hielt sie sich jedoch noch bis in die 1950er Jahre. Zur Sonntagstracht wurden verzierte Knöpfe und Schmuck getragen, sie wurde mit einer dunklen Schürze kombiniert, zur besonders aufwendigen Festtagstracht gehörte eine weiße Batist-Schürze mit Hohlsaumstickerei.
In der heute getragenen Tracht ist die insulare Mode konserviert, wie sie um 1900 üblich war. Sie orientierte sich an der Mode der bürgerlichen Oberschicht auf dem Festland, setzte aber durch maritime Attribute – vor allem beim Schmuck – eigene Akzente und behielt mit der kleinen roten Haube ein Element aus der älteren friesischen Tracht bei.
Grundbestandteil der Föhrer Tracht ist ein Trägerkleid aus schwerem Wollstoff (pai) mit hellblauem Saumbesatz und einer Weite von viereinhalb bis fünf Metern.
Dazu gehören ein enganliegendes Leibchen, an dem die Ärmel befestigt werden, ein Brustlatz, der mit Kette und Silberknöpfen dekoriert wird, Schultertuch und Kopftuch sowie bei verheirateten Frauen die bereits erwähnte rote Haube (hüüw). Dazu kommt eine Schürze.
Das Schultertuch von Helga Wögens hat eine Kantenlänge von 160 cm.
Auf Föhr wird die Tracht zur Konfirmation, zu Tauffeiern, zur standesamtlichen Trauung, an Feiertagen, bei Familienfesten und Heimatabenden getragen. Für die kirchliche Hochzeit hat mittlerweile das weiße Brautkleid der Tracht den Rang abgelaufen, weibliche Hochzeitsgäste erscheinen zur Feier jedoch weiterhin im Traditionsgewand.
Junge Mädchen – so sie konfessionell gebunden sind – legen erstmals zur Konfirmation die Tracht an, die zu diesem Anlass von älteren weiblichen Verwandten ausgeliehen wird. Für manches Mädchen ist die Tracht das erste Kleid seines Lebens, nach Jahren mit Jeans und T-Shirts. Die Mädchen müssen erst lernen, sich in den schwingenden bodenlangen Röcken zu bewegen. Die schweren Falten im Rückteil des pai erzwingen einen aufrechten Gang. Der pai muss beim Einstieg ins Auto gerafft werden, die Schürze muss beim Sitzen glatt zusammengefaltet werden, damit sie nicht knittert und sich niemand anderes daraufsetzt.
Je nach Kleidergröße und Rockweite wiegt eine vollständige Tracht fünf bis sechs Kilo.
Der materielle Wert wird auf 5000 bis 6000 Euro taxiert. Zu Buche schlägt vor allem der Silberschmuck: Knöpfe, Kopftuchnadeln, Schürzenhaken, Halskette und Brustkette.
Die informative und mit Esprit und Grazie vorgeführte Trachtenshow dauerte weit über eine Stunde, obwohl Kerstin Christiansen, wie sie selbst sagte, “richtig, richtig schnell” war.
Helga Wögens und Kerstin Christiansen wollen die Tracht nicht der Kommerzialisierung durch die Tourismusindustrie überlassen, sie wissen aber auch, dass Föhr vom Tourismus lebt. Für die Tourismusindustrie stellt die Tracht einen Aktivposten dar.
Titelfoto: Silberknöpfe am Ärmel der Festtagstracht von Kerstin Christiansen