Die Berliner Künstlerin Alexandra Hopf arbeitet mit unterschiedlichen Werkstoffen, malt, fotografiert und fertigt dreidimensionale textile Kunstwerke, die tragbar sind und das herkömmliche Kunstverständnis herausfordern.

Seit Jahren beschäftigt sich Alexandra Hopf ( ⃰1968) mit dem Textil-Design der europäischen und insbesondere der russischen Avantgarde und bildet deren Entwürfe in modifizierter Form und mit modernen Materialien nach.

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Atelier von Alexandra Hopf, zu sehen sind Rohlinge des Unisex-Overalls des italienischen Künstlers Thayaht; Nachbildung des Produktionsanzugs von Alexander Rodtschenko aus grauem Malervlies mit Kunstlederbesätzen; auf dem Laptop Hinterglasarbeiten mit Kleiderentwürfen frei interpretiert nach Warwara Stepanowa. Foto © Rose Wagner

Genauso wichtig wie die materielle Schicht der textilen Nachbildungen sind deren immaterielle Schichten. Sie werfen Fragen auf und rufen die Geschichte ins Gedächtnis zurück.

In Russland war um 1913/14 ein avantgardistisches Milieu entstanden, aus dem der Konstruktivismus hervorging. Dieser verkündete das Ende traditioneller Kunstrichtungen, bejahte moderne Technik und entfaltete eine eigene visuelle Sprache. Nach der Oktoberrevolution wurde der Konstruktivismus zur offiziellen Kunstform des neuen Sowjetstaates erhoben. Konstruktivistische Künstler schufen Dinge des Alltags wie Haushaltsgegenstände und Kleidung, in denen sich die neuen gesellschaftlichen Werte – klassenlose Gesellschaft, Vorrang des Kollektivs vor dem Individuum, Absage an Luxus, Zweckmäßigkeit, Industrieproduktion – widerspiegeln sollten. Auch durch Kunst und eine neue Ästhetik sollte das Bewusstsein der Menschen verändert werden.

Außer dem Grafikdesign, das sich weitgehend nur auf Papier vollzog ‒ überzeugend belegt in der Ausstellung „The Paper Revolution“ im Winter 2017 im Bröhan-Museum in Berlin ‒, ist materiell wenig erhalten geblieben.

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Alexander Rodtschenko, Plakat „Lengiz“, 1924, Rekonstruktion von Warwara Rodtschenko 1964, The Rodchenko and Stepanova Archive, Ausstellung „The Paper Revolution“, Bröhan-Museum, Berlin. Foto © VG Bildkunst, Bonn 2017 / Bröhan-Museum

Nur wenige der Entwürfe für richtungsweisende Kleidung wurden realisiert. Das lag am desolaten Zustand der russischen Industrie, am Rohstoffmangel nach Jahren des Bürgerkrieges sowie an der bitteren Armut der Massen, die drängendere Probleme quälten als eine neue revolutionäre Mode.

Nach der Machtergreifung Stalins 1924 wurde der Spielraum der Konstruktivisten eingeschränkt, bis schließlich 1932 der Sozialistische Realismus zur einzig wahren Kunstform erklärt wurde.

Hopf hat sich vor allem mit den Textil-Entwürfen von Wladimir Tatlin (1885-1953), Alexander Rodtschenko (1891-1956) sowie Warwara Stepanowa (1894-1958) befasst.

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Hinterglasarbeit, freie Interpretation eines Kleiderentwurfs von Warwara Stepanowa. Foto © Alexandra Hopf

Als erstes arbeitete sie den Produktionsanzug von Rodtschenko nach. Das Stück aus dem Jahr 1922 mit der Anmutung proletarischer Arbeitskleidung war aus Wollstoff, hatte vier große aufgesetzte Taschen und Lederbesätze und wurde als Künstlerarbeitskleidung von Rodtschenko selbst getragen. Seine Ehefrau Warwara Stepanowa hatte den Produktionsanzug in bewusster Absage an traditionelle Geschlechterverhältnisse als Unisex-Modell entworfen. An Rodtschenko wirkte er allerdings ausgesprochen maskulin, wie auf einem bekannten Foto zu sehen ist, auf dem er Pfeife rauchend posiert.

Für die Ausstellung A Private Collection (Berlin, 2012) fertigte Hopf den Rodtschenko-Anzug aus grundierter Leinwand und bekleidete damit drei Schaufensterpuppen. Jetzt wirkte das Kleidungsstück androgyn, asexuell, fast klinisch-steril. Auf Fotos der Ausstellung fällt die einheitliche Kleidung der drei Puppen ins Auge, und der Betrachter fragt sich unwillkürlich: Verkörpern die drei ein Kollektiv, das durch einheitliche Arbeitskleidung markiert wird oder stellen sie Besucherinnen dar, die zufällig alle die gleiche modische, uniforme Kleidung tragen?

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Nachbildung von Rodtschenkos Produktionsanzug in der Ausstellung A Private Collection, 2012, Galerie Cruise & Callas, Berlin.
Foto © Alexandra Hopf

Mehr als an jedem anderen Kleidungsstück entzündet sich die Phantasie von Alexandra Hopf an dem Mantel von Wladimir Tatlin aus dem Jahr 1922.

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Tatlins Mantel (links) und Schnittbogen in der Zeitschrift „Rotes Panorama“, 1924, Nr. 23, nachgedruckt auf Flyer der Ausstellung „Die Falten der Revolution – International Standard Coat 1917-2017“. Foto © Tamara Lorenz für ZERO FOLD / Birgit Laskowski

Tatlin hatte sich bereits um 1910 durch Material-Skulpturen (Konterreliefs) einen Namen gemacht. Sein Entwurf eines Monumentes für die Dritte Internationale ‒ ein spiralförmiger Turm ‒ von 1919/20 fehlt in keiner Ausstellung über die russische Avantgarde.

Tatlins Mantel ist wegen seiner durchdachten Konstruktion und Funktionalität bemerkenswert. Die Form ähnelte einem Ei. In den Schultern und an der Taille war er weit, nach unten zu wurde er enger. Auf diese Weise wurde die Wärme gehalten und konnte nicht nach unten hin entweichen. Ein enger Halsausschnitt sollte ein Auskühlen verhindern. An keiner Stelle engte der Stoff ein, und der Mantel ließ bequem alle Körperhaltungen zu. Der Schnitt war so konzipiert, dass bei Abnutzung einzelner Stellen des Kleidungsstücks diese separat durch neue ersetzt werden konnten. Er war aus wasserabstoßendem Material. Tatlins Mantel war und ist der Inbegriff von Zweckmäßigkeit und Nachhaltigkeit.

Elegant war er nicht, denn er war als Anti-Mode gedacht, als Absage an Individualität und ständigen modischen Wandel, der als dekadent und bourgeois galt. Der Entwurf ging nicht in die Produktion.

In ihrer Ausstellung Maison Tatlin (2015) hängte Alexandra Hopf eine Gruppe grob geschneiderter Rohlinge aus roher Malerleinwand des Mantel-Nachbaus in einer Reihe auf. Auf diese Weise wurde die Idee der Serialität betont, die Tatlin so wichtig war.

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Rohlinge des Tatlin-Mantels, Ausstellung Maison Tatlin, Köln 2015, Galerie Scharmann & Laskowski. Foto © Alexandra Hopf

Für eine Ausstellung aus Anlass des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution – Die Falten der Revolution – International Standard Coat 1917-2017 – bearbeitete Hopf den Original-Schnitt, verschlankte die Form und entwickelte den Tatlin-Mantel zu einem heute tragbaren Modell aus hochwertigem Material weiter.

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Tatlin-Mäntel im Schaufenster, Blick von außen in die Ausstellung Die Falten der Revolution –
International Standard Coat 1917 – 2017, ZERO FOLD, Köln. Foto © Tamara Lorenz / Alexandra Hopf

Als Oberstoff wird Malerleinwand – eine Referenz an die Malerei – verwendet, das Futter besteht aus einem modernen technischen Silbergewebe. Geschlossen wird der Mantel mit echten Kuhhornknöpfen aus den 1920er Jahren.

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Silbergewebe, Kuhhornknöpfe. Foto © Alexandra Hopf

Er wird in einer limitierten Auflage von 100 Exemplaren als International Standard Coat in den Größen XS bis L zum Verkauf angeboten.

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Gesticktes Label. Foto © Alexandra Hopf

Bereits am Tag der Ausstellungseröffnung im Kölner Projektraum ZERO FOLD wurden zwei Exemplare – Preis 1500 Euro – verkauft.

Gefertigt wurde der neue Tatlin-Mantel in Berlin.

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Foto © Alexandra Hopf

Alexandra Hopf behielt die Kontrolle über den gesamten Produktionsprozess, auch um vertretbare Arbeitsbedingungen aller Beteiligten sicherstellen zu können.

Die Infrastruktur der lokalen Modeindustrie ist nicht förderlich für kleine, anspruchsvolle Produktionen. Wünschenswerte Kenntnisse und Fertigkeiten können nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Die Suche nach geeignetem Material, nach qualifizierten Handwerkerinnen und nach Betrieben für Gradierung, Wäschepflege, Herstellung von Etiketten und Nähen der kleinen Serie war langwierig und nervenaufreibend, letztlich aber erfolgreich.

Neuere Entwicklungen wie FabLabs – offene Werkstätten für assistierte computergesteuerte Fertigung – werden es zukünftig leichter machen, anspruchsvolle Einzelteile oder kleine Serien ohne hohe finanzielle Investitionen mit neuester Technologie zu fertigen. Für Alexandra Hopf stellen FabLabs eine Vision für die Zukunft dar.

Ein bleibendes Vermächtnis der russischen Avantgarde ist die von ihr aufgeworfene Frage nach der Aufgabe der Kunst und der Rolle der Künstler. Alexandra Hopf will diesen Diskurs wiederbeleben und weiterentwickeln. Die Frage, ob Kunst absolute ästhetische Autonomie reklamieren oder sich von politischen Ideen in Dienst nehmen lassen soll, ist noch immer aktuell. Heute muss der Diskurs um die ökologische Dimension erweitert werden.

Für Alexandra Hopf ist Tatlins Mantel auch ein Sinnbild für die Suche nach der idealen Form. Ein in Form und Ausführung vollendet gelungenes Kleidungsstück ist zeitlos und steht schnellem Wechsel entgegen, eine Grundvoraussetzung für mehr Nachhaltigkeit.

In ihren nächsten textilen Projekten wird sie sich weiter mit dem Verhältnis von Uniformität und Individualität beschäftigen, wie das bereits bei Rodtschenkos Produktionsanzug der Fall war. Das führt unweigerlich zu Themen wie Uniformen und Arbeitskleidung. In den Blick genommen hat Alexandra Hopf – neben anderen – Elizabeth Hawes (1903-1971), eine der unkonventionellsten amerikanischen Designerinnen, die ähnliche Fragen aufwarf wie einst die russische Avantgarde.

 

Titelfoto: Serie mit Rohlingen des „Tuta“, freie Nachbildung des Unisex-Overalls von 1918/19 des italienischen Avantgarde-Künstlers Thayhat