Für die amerikanische Mode war Claire McCardell (1905-1958) das, was Coco Chanel für Paris war, so sieht es zumindest die Modehistorikerin Valerie Steele. McCardell steht für einen genuin amerikanischen Stil, für Sportswear und den American Look. Viele ihrer Innovationen – etwa die Übernahme von Elementen aus der Männer- und Arbeitskleidung, ein System kombinierbarer Einzelteile, Wickelkleider, Reißverschlüsse in Röcken, Ballerinas – sind heute so selbstverständlich, dass kaum noch ein Gedanke an ihren Ursprung verschwendet wird. Die Designerin, deren Einfallsreichtum und Problemlösungsfähigkeit wir so viel verdanken, ist hierzulande nahezu vergessen.
Ihr Todestag jährt sich 2023 zum 75. Mal. Es gibt gute Gründe, sich ihrer zu erinnern.
Biografisches
Claire McCardell wurde 1903 in der Kleinstadt Frederick in Maryland geboren. Ihre Familie gehörte zu den Stützen der lokalen Gesellschaft. Nach kurzem Aufenthalt am „Hood College“, einer Kunsthochschule für Frauen in Maryland, wechselte McCardell – gegen väterlichen Widerstand – 1926 zur renommierten „Parsons School of Design“ in New York. Dort belegte sie die Fächer Modezeichnen und Schnittgestaltung. Nach Abschluss des Studiums 1928 betätigte sie sich in New York zunächst in unterschiedlichen Bereichen – von der Maßschneiderei bis zum Department Store. Ende 1930 ging sie zum Konfektionshersteller „Townley Frocks“, wo sie im Alter von 27 Jahren nach dem plötzlichen Unfalltod des Chefdesigners von einem Tag auf den anderen dessen Aufgaben übernehmen musste. Bei „Townley“ blieb sie – mit einer kurzen Unterbrechung 1939, in der sie für die Designerin und Unternehmerin Hattie Carnegie arbeitete – bis zu ihrem Tod 1958, zuletzt als Teilhaberin. Sie betrieb das Label „Claire McCardell Clothes by Townley“ und entwarf zusätzlich noch für andere Produzenten und große Department Stores.
Ihre Eheschließung 1943 mit Irving Harris – einem Architekten –, der zwei kleine Kinder mit in die Ehe brachte, veranlasste sie nicht zu einer Änderung ihres umtriebigen Berufslebens. 1956 veröffentlichte sie das Ratgeberbuch „What Shall I Wear?“.
Claire McCardell ist im Laufe ihres Lebens mit einer Reihe renommierter Designpreise ausgezeichnet worden. Das Nachrichtenmagazin „Time“ hob 1955 ihre Bedeutung mit einer Titelstory hervor. Diese Ehrung war bis dahin noch nie einem amerikanischen Designer zuteilgeworden.
Im Herbst 1957, auf der Höhe ihres Erfolgs, wurde bei ihr Krebs diagnostiziert. Vom Krankenbett aus dirigierte sie die Fertigstellung ihrer letzten Kollektion. Sie starb am 22. März 1958 im Alter von 52 Jahren. Ihr Label wurde aufgelöst. Ohne McCardells Schöpferkraft hatte es keine Zukunft mehr.
Im Nachruf der New York Times auf die Designerin hieß es, sie sei der Inbegriff des „All-American designer for the All-American girl“ gewesen. Ihre Mode sei ebenso unverkennbar amerikanisch gewesen wie sie selbst.
McCardell und Paris
Das Jahr 1927 verbrachte McCardell als Austauschstudentin in Paris. Die pulsierende Atmosphäre der Stadt in den 1920er-Jahren – Années folles – zog seit dem Ende des Ersten Weltkriegs viele kreative und lebenshungrige Amerikaner an, darunter Djuna Barnes, Gertrude Stein, Josephine Baker, Ernest Hemingway und F. Scott Fitzgerald. Die französische Hauptstadt war damals der Treffpunkt der europäischen und amerikanischen Avantgarden. In Kunst und Literatur wurden neue Formen wie Kubismus, Expressionismus und Dadaismus ausprobiert. Paris wurde zum Geburtsort der neuen amerikanischen Literatur der „lost generation“, die mit Lakonie den Zeitgeist einfing. Die wichtigsten europäischen Maler lebten damals in Paris. Dass McCardell Jahrzehnte später mit einigen dieser Größen für eine Serie mit Künstlertextilien – „A American Masters Series“ – zusammenarbeiten würde, hätte sich damals niemand vorstellen können.
In den Pariser Modehäusern tat sich in den 1920er-Jahren ebenfalls Umwälzendes. Coco Chanel (1883-1971) propagierte sportlich gebändigten Chic und führte Jersey und Tweed in die Haute Couture ein. Madeleine Vionnet (1876-1975) revolutionierte den Schrägschnitt. Beide Modeschöpferinnen verzichteten in ihrer Couture auf Korsetts. So stilistisch unterschiedlich Chanel und Vionnet auch waren, so sehr trugen doch beide auf ihre jeweilige Art zu einer modernen Ästhetik bei, die auf Panzerung verzichtete und Frauen die freie Bewegung erlaubte. Nirgendwo sonst war die Entwicklung so fortgeschritten wie in Paris. McCardell studierte die Designprinzipien der Haute Couture genau, vor allem die Schnitttechnik Vionnets. Das Jahr in Paris hatte einen unverkennbaren Einfluss auf McCardells ästhetische und schnitttechnische Entwicklung.
Es liegt eine gewisse Ironie darin, dass die maßgebliche amerikanische Ready-to-Wear-Designerin so viel der Pariser Haute Couture verdankte. Dabei sprach sich McCardell doch spätestens seit den 1930er-Jahren explizit gegen die einfallslose Unterwerfung der amerikanischen Mode-Industrie unter die französische Ideen-Dominanz aus. Sie sah die Zukunft der amerikanischen Mode in gut gemachter, stilistisch anspruchsvoller Konfektion und nicht im industriellen Nachahmen handgefertigter Pariser Luxusmode. Die Unterbrechung der amerikanisch-französischen Mode-Verbindungen im Zweiten Weltkrieg, als die Deutschen 1940 Paris besetzten, nahm McCardell zum Anlass, sich vollends von der französischen Mode abzuwenden. Auch als 1944 nach der Befreiung der französischen Hauptstadt die Haute-Couture-Schauen wieder anliefen, besuchte McCardell nie wieder eine Kollektionsvorstellung. „Ich will mich nicht von französischen Einflüssen verwirren lassen“, führte sie zur Erklärung an.
In dieser Hinsicht lag sie auf einer Linie mit Elizabeth Hawes (1901-1971), die ebenfalls in den 1920er-Jahren in Paris lebte und später eine wichtige Rolle in der US-Mode spielte. Es lassen sich kaum zwei gegensätzlichere Persönlichkeiten denken als die zurückhaltende Claire McCardell und die extrovertierte Elizabeth Hawes, der Paradiesvogel der amerikanischen Mode in den 1930er- und 1940er-Jahren. Hawes schuf in New York zeitlos elegante Couture für Privatkundinnen, ebenfalls explizit in Abwendung von Paris. Ein Beispiel aus dem Jahr 1939 ist in Abbildungen 5 und 6 zu sehen. Parallel zu ihrer Couture-Schneiderei tat sich Hawes als scharfzüngige, politisch links stehende Publizistin und entschiedene Befürworterin industrieller Massenproduktion hervor.
Abb. 5 und 6 Elizabeth Hawes, Abendkleid „Beyond a Doubt“, Vorder- und Rückenansicht, rückwärtige Knopfleiste. © Rhode Island School of Design Museum.
Die Stärke Amerikas, so meinten McCardell und Hawes unisono, lag in der Massenproduktion, die qualitativ hochwertige Konfektion liefern könnte, die für jeden erschwinglich und deshalb demokratisch war. Diese Überzeugung hielt keine der beiden Designerinnen davon ab, zeitlebens insbesondere die Schneiderkunst Madeleine Vionnets zu bewundern.
Historischer Kontext
McCardells Karriere muss vor dem Hintergrund großer gesellschaftlicher Veränderungen und einschneidender historischer Ereignisse gesehen werden: Weltwirtschaftskrise, New Deal, Zweiter Weltkrieg, Nachkriegswirtschaftsboom. In McCardells Zeit – besonders in die 1930er- und 1940er-Jahre – fällt die zunehmende Berufstätigkeit von Frauen, ihre größere Mobilität, gestärktes Selbstbewusstsein sowie das Bedürfnis nach passender Garderobe für die veränderten Lebensumstände und neuen Rollen.
Die erste Phase ihrer Laufbahn wurde durch die Wirtschaftskrise, den anschließenden ökonomischen Aufschwung und die sozio-kulturelle Blüte durch den New Deal der Roosevelt-Regierung bestimmt. Mit der großangelegten Werbekampagne „American Fashions for American Women“, die 1932 vom Kaufhauskonzern „Lord & Taylor“ gestartet wurde, sollte die von der Wirtschaftskrise gebeutelte Textilindustrie neu belebt und mit einheimischen Talenten der Verkauf angekurbelt werden. McCardell gehörte neben einem Dutzend weiterer Nachwuchstalente (Elizabeth Hawes war auch darunter) zu den von „Lord & Taylor“ Geförderten und wurde einem breiteren Publikum bekannt. Die Kampagne – auch als „American Designer Movement“ bezeichnet – stellte zwar Sportswear in den Mittelpunkt, ließ aber auch Raum für andere Stile, Hauptsache, es gab keine Anbiederung an die französische Mode.
McCardell galt bald als vielversprechendes Sportswear-Talent. Ihren ersten nennenswerten kommerziellen Erfolg errang sie 1938 mit dem „Monastic Dress“, einem ungefütterten, konturlosen Hänger im Schrägschnitt. Das „Monastic“ hatte weder Schulterpolster noch Abnäher und war mit seinen lockeren, frei fließenden Linien ein für die damalige Zeit radikales Kleidungsstück. Seine zukunftsweisende Charakteristik offenbarte sich erst im angezogenen Zustand, denn es konnte mit einem Gürtel individuell an die Taille der Trägerin angepasst werden. Das „Monastic“ tauchte in variierter Form über die Jahrzehnte hinweg in vielen McCardell-Kollektionen wieder auf.
Der Zweite Weltkrieg, Rationierung und die Unterbrechung von Einfuhren seit der Besetzung von Paris im Juni 1940 brachten für die amerikanische Mode-Industrie eine grundlegende Veränderung. Das Versiegen der französischen Quelle zwang die Textilindustrie, sich voll und ganz auf die eigene Kraft zu verlassen. Die USA waren zwar das Land der modernsten Konfektionstechnologien, der Kaufkraft und des Konsums, die Kreativität in der Mode ging jedoch lange hauptsächlich von Paris aus. Viele US-Textilproduzenten fanden es einfacher und kostengünstiger, Pariser Entwürfe zu kaufen, illegal zu kopieren oder schlichtweg zu stehlen, als eigene Entwicklungsabteilungen aufzubauen und einheimische Design-Talente zu fördern. Amerikanische Konsumentinnen bevorzugten französisches Flair beziehungsweise als solches Deklariertes, selbst wenn die in den USA am Fließband produzierten Kleidungsstücke nur ein Zerrbild der originalen Pariser Haute Couture waren, dazu noch lieblos und schlecht verarbeitet. Amerikanische Ready-to-Wear-Designer standen lange von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen im Schatten des Paris-Kultes.
Sportswear, Inbegriff des American Look
Seit die USA als unabhängiger Staat existierten, richtete sich der Blick in Fragen der Mode nach Paris. Es dauerte fast 150 Jahre, bis sich mit Sportswear ein Kleidungsstil herausbildete, der das Lebensgefühl und die Vorstellungen der Neuen Welt verkörperte und Zweckmäßigkeit, Leichtigkeit (ease), Freiheit und Demokratie widerspiegelte. Wobei frei in diesem Zusammenhang die Bewegungsfreiheit durch Sportswear meint und demokratisch, dass diese Kleidung für alle zugänglich und erschwinglich war.
Die Wurzeln von Sportswear liegen in der europäischen – vor allem englischen – Sportmode sowie in der amerikanischen Reformkleidung des späten 19. Jahrhunderts, von denen sie den Verzicht auf stützende, formende und einengende Unterbauten (Korsetts) übernahm.
Sportswear unterschied sich von der etablierten Kleidermode durch ihre angenehmen Trageeigenschaften und den geringeren Pflegeaufwand (Bügeln!). Das bedeutete eine Befreiung von Zwängen. Abbildung 9 zeigt zwei junge Frauen 1942 in Detroit in gefälliger Mode, deren Pflege zeitaufwendig sein konnte.
Herkömmliche Kleidung war in der Regel rigide strukturiert. Der Körper der Frau wurde mit Abnähern, starrem Rockbund, Unterfutter und steifen Einlagen in eine bestimmte Form gebracht. Das Foto in Abbildung 10 zeigt Büroangestellte der Chrysler-Werke in Detroit 1942 in zeittypischer Kleidung, fester Rockbund, Schulterpolster, eingesetzte Ärmel (Kugelärmel).
Unter der Oberbekleidung trugen damals die meisten Frauen Korsetts oder Hüfthalter und formende Büstenhalter. In Abbildung 11 ist ein Lingerie-Model für eine Modenschau des „Chrysler Girls’ Club of the Chrysler Corporation“ zu sehen. Die Kleider, die bei der Präsentation vorgeführt wurden, benötigten für ihre Wirkung einen formenden Unterbau.
Sportswear machte Schluss mit den Miedern. Die implizite Annahme war, dass ‘vernünftige’ Frauen ihren Körper mit kontrollierter Ernährung, viel Bewegung und Sport in Form halten oder bringen würden.
Bis in die 1950er-Jahre lag die Entwicklung von Sportswear fast ausschließlich in den Händen von Frauen. McCardell war die bekannteste, aber keineswegs die alleinige Schöpferin der neuen Ästhetik der Lässigkeit. Auch Vera Maxwell (1901-1995), Carolyn Schnurer (1908-1998) und Bonnie Cashin (1915-2000) brachten die Sportswear-Entwicklung voran und lieferten originäre Entwürfe, doch McCardell überstrahlte sie alle.
Das Spektrum von Sportswear war immer schon breit gefächert. Neben Alltags- und Freizeitmode umfasste es von Anfang an auch nonchalante Dinner- und Abendkleidung.
Den Begriff American Look für Sportswear prägte Dorothy Shaver (1893-1959). Sie war die Initiatorin der bereits erwähnten Kampagne „American Fashions for American Women“ und einflussreiche Vizepräsidentin des Kaufhauskonzerns „Lord & Taylor“. Ursprünglich sollte mit dem Begriff American Look vor allem betont werden, dass es um Mode von einheimischen Talenten ging. Während des Zweiten Weltkriegs, als die USA ohne französischen Ideentransfer auf sich selbst gestellt waren, wurde der Begriff patriotisch verstanden, im Sinne von „Wir Amerikaner schaffen das auch alleine!“. In den 1950er-Jahren, zur Zeit des Kalten Krieges, schlich sich ein nationalistischer Unterton ein. Für McCardell stand der American Look – und damit Sportswear generell – für Amerika, für Freiheit, Demokratie und Fortschritt, wie sie in ihrem Buch „What Shall I Wear?“ ausführte.
Von Anfang schimmerte im American Look ein bestimmtes Körper- und Schönheitsideal durch: junge, aktive, schlanke und möglichst sportliche Frauen. Übergewicht und Phlegma ließen sich mit dem propagierten Idealbild der modernen Amerikanerin nicht vereinbaren. Gesundheit, Natürlichkeit und Tatkraft waren Leitideen, die durch Sportswear betont werden sollten. Heute, im Zeitalter von Diversität, Inklusion und Body Positivity, hat sich das Körper- und Schönheitsideal gewandelt, wie in Abbildung 13 mit einer Werbeanzeige von Nike für Sportswear deutlich wird.
Die Vorstellung eines unbeschwerten und von Zwängen befreiten Lebens kam schon in den frühen Sportswear-Modefotos zum Ausdruck. Sie zeigten schlanke junge Frauen in Bewegung, oft mit fliegendem Haar, die Optimismus und Tatendrang ausstrahlten. Shootings für Sportswear erfolgten meistens im Freien, statt wie bis dahin üblich im Studio. Stilbildend war die Fotografin Toni Frissell (1907-1988), die für sich in Anspruch nahm, die Modefotografie revolutioniert zu haben. Ihre Aufnahme hüpfender junger Frauen in Sportswear für die „Vogue“ 1935, zu sehen in Abbildung 14, gilt heute als ‘ikonisch’.
Designprinzpien und Innovationen
McCardell hatte mit ihren Entwürfen solche Amerikanerinnen im Auge, die mitten im Leben standen, nicht viel Zeit auf ihre Garderobe verwenden wollten, Zweckmäßigkeit hochhielten und unangestrengt chic aussehen wollten. Im Prinzip schuf sie Mode für sich selbst.
Sie überführte das Designprinzip „Form Follows Function“ erfolgreich in die textile Massenproduktion. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen waren Funktionen wie Zweckmäßigkeit, Unkompliziertheit, Flexibilität, Bequemlichkeit und Bewegungsfreiheit. Danach richteten sich Schnitt, Material und Verschließungselemente. Alles war genau durchdacht. Zu knöpfende Ärmelmanschetten gab es bei ihr selten, aufwendige Umschlagmanschetten nie.
Ihre Entwürfe fanden im Mittleren Westen genauso Anklang wie in den urbanen Settings von New York und San Francisco. Zu ihrer diversen Klientel gehörten auch Frauen wie Rosalind Russell, Lauren Bacall und Katharine Hepburn, jede auf ihre Weise eine Verkörperung von Unabhängigkeit und lässigem Chic.
McCardells lebensweltliche Grundhaltung und Designprinzipien zeigten sich besonders deutlich an ihrem „Popover“ genannten, schmalen Wickelkleid aus dem Jahr 1942, das als „utility garment“ vermarktet wurde. Das Kleid mit Dreiviertelärmeln und einer großen, aufgesetzten Tasche ließ sich einfach über den Kopf ziehen, war im Haushalt wie im Büro tragbar und konnte mit entsprechenden Accessoires auch für die Cocktail-Party aufgepeppt werden. Das „Popover“ kam in einer Zeit strikter Textilrationierung auf den Markt. Es war aus Denim, einem nicht rationierten Material, das bis dahin ausschließlich für Arbeitskleidung (Overalls, Jeans) verwendet wurde. Mit einem Preis von 6,95 Dollar war es unschlagbar preisgünstig. Es war ein bahnbrechendes Design und wurde ein sensationeller Verkaufserfolg. Der sparsame Materialverbrauch des „Popover“ ist kennzeichnend für McCardells meisterhaften Umgang mit stofflichen Beschränkungen. In jeder nachfolgenden Kollektion gab es eine Variation des „Popover“.
Auch die noch immer beliebten Ballerinas sind McCardell zu verdanken. Die Rationierung von Lederschuhen während des Krieges brachte sie auf die Idee, Ballettschläppchen zu alltagstauglichen Straßenschuhen – eben den Ballerinas – weiterzuentwickeln.
McCardells unaufwendige, gelegentlich nahezu asketisch wirkende Formensprache, der Verzicht auf jegliches Brimborium, lässt sich allerdings nicht nur auf kriegsbedingte Materialknappheit zurückführen, sondern entsprach auch ihrem Wesen – wie sich den Ausführungen in „What Shall I Wear?“ entnehmen lässt. Das schlanke Hemdblusenkleid in Abbildung 16 ist typisch für ihre knappen Silhouetten und stilistischen Anleihen aus der Männerkleidung.
Spätestens seit dem „Popover“ erkor die amerikanische Modepresse McCardell zu einem ihrer Lieblinge. Das war allerdings nicht nur auf ihre neuen Gestaltungsideen und gewinnende Art zurückzuführen, sondern auch auf eine gezielte Werbestrategie von „Townley Frocks“. Das Unternehmen ließ vorzugsweise solche Modelle bewerben, die sicheren kommerziellen Erfolg versprachen. Die historische Wahrnehmung McCardells wird von ihren gängigen Entwürfen bestimmt. Im Hinblick auf Originalität waren das nicht immer ihre wichtigsten.
Zu ihren besonders schöpferischen, aber erstaunlicherweise wenig bekannten Unternehmungen gehörte die Beteiligung an der bereits erwähnten Initiative “A Modern Masters Series”. Dabei handelte es sich um die bemerkenswerte Zusammenarbeit zwischen einem amerikanischen Textilunternehmen und der Crème de la Crème europäischer Maler. Der kunstbegeisterte New Yorker Stoff- und Textilproduzent Dan Fuller bat 1955 Pablo Picasso, Fernand Léger, Marc Chagall, Joan Miró und Raoul Dufy um Entwürfe für Textilien. Die Stoffe mit den Künstlerdessins wurden in großer Menge zu einem günstigen Preis produziert. Sie waren für die Sportswear-Produktion sowie für Hobby-Schneiderinnen gedacht und verkauften sich gut. McCardell wurde von Fuller um Entwürfe für diese Stoffe gebeten. Abbildung 17 zeigt ein Hemdblusenkleid mit dem Motiv „Parade Sauvage“ von Fernand Léger. Für ein Sportswear-Kleidungsstück war Légers Druckvorlage ungewöhnlich, spielte sie doch auf ein homoerotisches Gedicht des französischen Lyrikers Arthur Rimbaud an, einem – nicht nur literarischen – enfant terrible des 19. Jahrhunderts. Das Besondere an McCardells Beiträgen zur „Masters Series“ – sie lieferte ein komplettes Set kombinierbarer Stücke mit unterschiedlichen Künstlerdessins – war die virtuose Abstimmung zwischen Stoffmuster und Kontur des jeweiligen Kleidungsstücks. Mit jedem einzelnen Künstler führte sie in Paris Gespräche über ihre Umsetzungsideen.
McCardell übernahm aus der Männer- und Arbeitskleidung Elemente wie doppelte Zier-Steppnähte, stählerne Haken und Ösen, Reißverschlüsse und praktische Taschen. Im Rücken zu schließende Kleider gab es bei ihr nicht, das fand sie – insbesondere für alleinlebende Frauen – unpraktisch. Sie verwendete dauerhafte Baumwolle, die neuen pflegeleichten Chemiefasern sowie weiches Wolljersey. Bereits 1936 ersann sie das System kombinierbarer Einzelteile (separates). Zur Erhöhung des Tragekomforts setzte sie oft Raglanärmel ein. Viele Entwürfe gaben keine fixierte Kontur vor, sondern konnten gewickelt, gerafft und drapiert werden. Das lässt an die französische Modeschöpferin Madame Grès (1903-1993) denken, die in den 1940er-Jahren in Paris griechische Drapierungstechniken neu ausdeutete. McCardell ermöglichte durch den Einsatz von Gürteln, Schärpen und Bändern die individuelle Anpassung an unterschiedliche Körperformen der Trägerinnen. Auf dem Weg zu verbesserter Passform (fit) der bis dahin invariablen Konfektionskleidung war das eine bedeutsame Weiterentwicklung.
Das grüne Baumwollkleid in Abbildung 18 steht musterhaft für McCardells Designprinzipien. Es besteht aus einem einzigen Stück Stoff, wird vorne mit Stahlösen geschlossen und mittels zweier Bänder aus dem Kleiderstoff an die Figur der Trägerin angepasst.
McCardell war zwar – so die „Vogue“ 1941 – die Personifizierung von „Zweckmäßigkeit“, doch ihr Repertoire lässt sich nicht darauf reduzieren. Sie schuf abenteuerliche Stücke wie Jumpsuits aus Rotholzrinde (1943) und meterlange grüne Filzhüte (1945), von denen allerdings keine Exemplare erhalten sind. Es gab Spielerisches und Heiteres wie Sommerkleider mit Spaghetti-Trägern und „Playsuits“ – eine Art Babydolls – für den Strand. Die ersten „Playsuits“ erschienen Anfang der 1940er-Jahre in Sonder-Kollektionen für die Ferienzeit (resort collections) und waren außerordentlich populär, es gab sie sogar aus Seide. In Abbildung 19 ist ein Modell aus Baumwolle im Schrägschnitt (das lässt an Vionnet denken) zu sehen. Das lebhafte Tartanmuster kommt dadurch besonders gut zur Geltung.
McCardells resort collections umfassten auch Bademode aus Jersey, die als ‘gewagt’ galt und wohl nur an den mondänen Stränden von Long Island oder Newport getragen wurde.
McCardells Motto lautete: Mode soll Spaß machen. Im persönlichen Leben war sie in Modefragen ausgesprochen unkonventionell. Sie legte sich Schnürsenkel und bunte Bänder anstelle der üblichen Perlenkette um den Hals und fegte in einer schwarzen, abgetragenen, mottenzerfressenen Gepardenjacke über die Skipiste. Sie war eine begeisterte und ausdauernde Sportlerin.
In ihren Geschäftsideen und bei der Vermarkung erwies sie sich als innovativ und gewitzt. Seit Anfang der 1950er-Jahre schickte sie ihre Hausmannequins mit Kleiderkoffern auf landesweite Verkaufs- und Vorführtouren. Ihre Models mussten exakt ihre eigenen Maße – 172cm, Konfektionsgröße 38 – aufweisen, langbeinig sein und sich schlaksig wie sie selbst bewegen, die Hände beim Vorführen stets in den allgegenwärtigen Taschen. McCardell wollte vermeiden, dass durch desinteressierte Miet-Mannequins der lässige Appeal ihrer Mode verloren ging. Sie posierte auch selbst für Modefotos.
Sie war eine der Ersten, wenn nicht gar die Erste, die eine außerordentlich breite Produktpalette – Accessoires, Brillen, Schmuck, Braut- und Kindermode – entwickelte und unter eigenem Namen vermarktete. Erst in den 1980er-Jahren wurde bei den großen amerikanischen Labels diese Praxis allgemein üblich.
Sie war ebenfalls die Erste, die aus der von der Textilindustrie verordneten Anonymität der Ready-to-Wear-Designer ausbrach und durchsetzte, dass ihr Name auf den Etiketten der von ihr entworfenen Kleidungsstücke stand.
Vermächtnis und Perspektiven
McCardells Relevanz schlägt sich bis heute in Retrospektiven in amerikanischen Museen nieder. Anläßlich ihres 75. Todestages erinnern das „Fashion Institute of Technology“ in New York, das „Maryland Center for History and Culture“ in Baltimore und das Heimatmuseum in Frederick mit Ausstellungen an sie.
In Manhattans „Garment District“, einst das Zentrum der amerikanischen Textilindustrie, demonstriert eine Plakette auf dem „Fashion Walk of Fame“ McCardells Bedeutung für die Modestadt New York.
Designer wie Donna Karan, Calvin Klein, Marc Jacobs, Norma Kamali und Tory Burch – allesamt New Yorker – berufen sich noch heute auf McCardell als Inspirationsquelle. Besonders deutlich lebt ihr Spirit in den Kollektionen von Jack McCollough und Lazaro Hernandez für das Label Proenza Schouler weiter, das klassische, feminine Sportswear zeitgenössisch interpretiert, man könnte auch sagen: updated. Für diesen Typ lässig-urbaner Sportswear erfand die Modejournalistin Cathy Horyn den Begriff der sporty fashion.
Mit Sportswear wurden Look und Feel nicht nur der amerikanischen, sondern der Mode weltweit neu definiert. Die ersten Sportswear-Designerinnen schufen ausschließlich Frauenmode. Mit neuen Designer-Generationen kamen Kollektionen für Männer hinzu. Mittlerweile – entsprechend dem Zeitgeist – schieben sich genderfluide Tendenzen in den Vordergrund. Das Spektrum ist heute breiter denn je, zumal eine Verschmelzung von Sportswear mit Profi-Sportkleidung erfolgt ist – bezeichnet als athlete wear oder athleisure –, wie sich in den Kollektionen von Nike und Adidas oder im Label Ivy Park von Beyoncé und ihrer Kooperation mit Adidas zeigt, zu sehen in Abbildung 26.
Alles, was urban-lässig, casual und cool ist, zählt heute zur großen Sportswear-Familie. Auch Elemente des expressiven Hip-Hop-Stils wurden integriert. Eine klare Abgrenzung ist kaum möglich. Das ist typisch für die heutige Modeentwicklung, bei der vieles im Fluss und manches beliebig ist. Die Begriffe Sportswear und Streetwear werden synonym verwendet. Von genereller Erschwinglichkeit der Produkte kann allerdings längst nicht mehr die Rede sein. Marken wie Off White und Supreme liegen im oberen Preissegment, zudem findet Sportswear Niederschlag in der hochpreisigen Haute Couture, wie nicht nur bei Balenciaga zu sehen ist. Zu den globalen Marktführern traditioneller Sportswear zählen derzeit die Label Ralph Lauren, Calvin Klein und Tommy Hilfiger. In Abbildung 27 ist ein Plakat aus der Werbekampagne von Calvin Klein mit Prominenten zu sehen. Die Auswahl der Werbe-Stars – Rapper Lil Nas X, R&B-Sängerin SZA, Pop-Idol Justin Bieber und Model Kendall Jenner – veranschaulicht die mittlerweile unauflösliche Verbindung von Pop-Kultur und Mode.
Auch wenn sich die US-Mode längst ausdifferenziert hat und nicht mehr auf Sportswear reduziert werden kann, gilt doch dieser Stil im Land selbst und weltweit – auch in seinen aktuellen Varianten und Facetten – noch immer als die amerikanische Mode per se. Claire McCardell gehörte zu denen, die dafür die Grundlage gelegt haben. Die von ihr in die Mode eingeführten Eigenschaften Zweckmäßigkeit, Unkompliziertheit, Flexibilität, Bequemlichkeit und Bewegungsfreiheit sind selbstverständlich geworden. Sie war keine Künstlerin der Mode wie Madeleine Vionnet mit ihren Entwürfen im Diagonalschnitt oder wie Madame Grès mit ihren Drapierungsschöpfungen, sondern – so diagnostiziert Valerie Steele – durch und durch Realistin, allerdings mit lässig-leichtem Touch. Claire McCardell hat die Mode dauerhaft geprägt und bereichert.
Bildnachweise
Literatur
Titelfoto: Claire McCardell, „Bolena Sun Specs“, ca. 1955.