„Fashion-lights! Wie kommt die Mode in den Stoff?“
TextilWerk Bocholt, Spinnerei > 13.05.2012 – 18.11.2012
Weit ab vom Schuss, tief in der Provinz, im westlichen Münsterland, liegt Bocholt. Hugenottische Glaubensflüchtlinge brachten im 16. Jahrhundert die Baumwollverarbeitung in die Stadt, in der bereits die Leinenweberei heimisch war. In der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte zunächst bei der Garnherstellung der Übergang zur industriellen Produktion, bald danach stellten die Webereien darauf um. Zeitweilig waren über 10.000 Menschen in der Bocholter Textilindustrie tätig. Die strukturelle Transformation der 1970er Jahre führte zu einem dramatischen Produktionsrückgang und der Schließung vieler Betriebe. Einige Unternehmen konnten sich jedoch erfolgreich behaupten. Ein leuchtend blaues Permanent-Plissee-Kleid repräsentiert in der Ausstellung die technischen Innovationen der Bocholter Stoffproduktion.
Das TextilWerk Bocholt ist einer von acht Standorten des Industriemuseums des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL). Es besteht aus zwei Gebäudekomplexen. Zunächst ist da die von Grund auf neu gebaute „Museumsfabrik“ mit einer Webhalle, in der 30 historische Maschinen Platz finden.
Dazu kam Anfang 2012 das Hauptgebäude der ehemaligen Spinnerei Herding, lange Zeit der größte Betrieb am Ort. Der viergeschossige Backsteinbau aus der Zeit um 1900 wurde aufwendig saniert. Die hohen und lichten Hallen der Spinnerei sind ideal für die Inszenierung einer Textilausstellung. „Fashion-lights! Wie kommt die Mode in den Stoff?“ ist die erste in diesen Hallen. Sie will der Frage nachgehen, „wie modische Trends entstehen und warum sich Modeströmungen zu einem bestimmten Zeitpunkt durchsetzen“. Technik und Strukturen der Textilproduktion stehen nicht im Vordergrund, obgleich ausgestellte Maschinen, Musterbücher und Entwürfe durchaus einen Einblick in den Prozessablauf ermöglichen. „Wir wollten vom Produkt ausgehen, nicht von den Maschinen, und wir wollten Geschichten erzählen“, betont Martin Schmidt, wissenschaftlicher Referent des LWL- Industriemuseums.
Auf 600 Quadratmetern sind 130 Kleider ausgestellt. Konfektion und Selbstgenähtes überwiegen, damit ist auch der ästhetische Rahmen gesteckt. In den Exponaten spiegeln sich internationale Trends, Regionalität und manchmal auch Provinzialität.
Zu sehen ist überwiegend Damenkleidung, was typisch für alltagskulturelle Ausstellungen ist. „Männer heben höchstens ihren Hochzeitsanzug auf, dafür aber mehr Technik. Frauen dagegen behalten vieles, was sie an eine wichtige Zeit in ihrem Leben erinnert, und das sind oft Kleider“, bemerkt Martin Schmidt. Und so sieht man textile Hüllen, die für ihre Trägerinnen einen hohen symbolischen Wert besaßen. Sie wurden zur Verlobung, zur Abiturfeier oder zum Schützenfest getragen. Kleine Tafeln an den Objekten geben Hinweise, aus denen die Besucher sich dann die ganze Geschichte spinnen können.
Die Ausstellung ist in drei Teile gegliedert:
- Modeentwicklung von den 1950er Jahren bis heute
- Thematisierung beeinflussender Faktoren wie Politik, Kunst, Pop-Musik, Film oder Körperbilder
- Abstimmungsprozesse zwischen Industrie, Designern und Modelabels
Besonders der mittlere Teil der Ausstellung überzeugt. Am Beispiel der „langen 1970er Jahre“, die von 1968 bis zum Amtsantritt Helmut Kohls im Jahr 1982 reichen und die in der aktuellen zeithistorischen Forschung als entscheidende Dekade des Umbruchs diskutiert werden, wird die These belegt, „dass der Zeitgeist die Mode bestimmt“. Die Periodisierungen in der internationalen Modefachliteratur sind zwar überwiegend kürzer, aber im Ergebnis werden die siebziger Jahre darin ebenfalls als eklektisch, pluralistisch, fragmentiert und aufrührerisch eingeschätzt. Das Unübersichtliche dieses Zeitabschnitts wird mit prägnanten Beispielen, etwa der Gleichzeitigkeit verschiedener Rocklängen – Mini, Midi, Maxi – illustriert. Plakate, Filmsequenzen, Plattencover und Modejournale rahmen die präsentierten Kleider ein und legen Zusammenhänge nahe.
Leider kann nicht alles, was in den 1970er Jahren stilprägend war, durch textile Exponate belegt werden. So fehlt beispielsweise Punk, die Anti-Mode, die für das Provokative dieser Epoche steht. „Punker heben nichts auf“, hat Martin Schmidt bei der Einwerbung der Exponate erfahren müssen. Aber vielleicht gab es in der Region auch nicht so viele Mode-Rebellen? Die Punk-Outfits hätten jedenfalls mit ihrem vorherrschenden Schwarz und ihrer Zerrissenheit einen wohltuenden Kontrast zum glänzenden Disco-Look mit viel Lurex und Pailletten sowie dem reichlich vertretenen Romantik-Look in seinen verschiedenen Spielarten – Folklore-, Hippie- und Ethno-Look – bilden können.
Junge Mädchen liebten es, alte Wäsche umzufunktionieren. Inspirationen lieferten Filme wie „Der große Gatsby“ (1974) mit Robert Redford und Mia Farrow sowie „Pretty Baby“ (1978) mit Brooke Shields. Und so sieht man ein weißes Leinennachthemd von Anfang des 20. Jahrhunderts, das Ende der 1970er Jahre mit einem violettfarbenen Samtband verziert als Sommerkleid getragen wurde.
An manchem Exponat zeigen sich Aspekte, die in sozialgeschichtlicher Hinsicht bemerkenswert sind. Über ein Indienkleid erfährt man, dass es 1974 von einem damals 14jährigen Mädchen in einer kleinen Pariser Boutique erworben wurde, die Folklorekleidung führte. Das Kleid wurde in Osnabrück getragen, wo der Indienlook noch absolut neu war und deshalb großes Aufsehen erregte. Um nicht allzu sehr aus dem Rahmen zu fallen, bügelte die Trägerin es immer recht ordentlich. Der Hippiesommer in der Provinz war nicht sehr wild. Wenige Jahre später öffnete auch in Osnabrück ein Laden mit Folklorekleidern, was durch ein anderes Exponat belegt wird.
Zu den neuen kulturellen Praktiken zählte das Reisen, das für breitere soziale Schichten bezahlbar wurde. Es führte zur Einebnung klassenspezifischer Konsummuster, aber auch zu neuen Differenzierungen. Die „feinen Unterschiede“ (Bourdieu) zeigten sich jetzt nicht nur in Stoff- und Modellwahl, sondern auch darin, wo ein Stück erstanden wurde. Zunehmend sahen sich junge Frauen, die etwas Ausgefallenes suchten, auf Flohmärkten um. Second-Hand-Kleidung verlor das ihr noch in den 1960er Jahren anhaftende Stigma der Bedürftigkeit und galt nun sogar als Ausweis von Modemut.
Hosen für Frauen setzten sich in den 1970er Jahren allgemein durch. Jeans wurden für beide Geschlechter gesellschaftsfähig, damit ist auch der Aufstieg der Freizeitmode markiert. Viele Jeans kamen allerdings noch recht zahm daher, nicht selten sogar mit Bügelfalten.
Noch längst war nicht alles überall möglich. Dies zeigt auch die Geschichte eines Maxi-Batik-Wickelrocks, erstanden auf dem Flohmarkt in Münster, in dem eine Oberstudienrätin (geb. 1932) an einem Osnabrücker Gymnasium zum Unterricht erschien. Sie handelte sich eine Abmahnung durch die Direktorin ein. Die strikten Dresscodes im öffentlichen Dienst wichen nur langsam einer liberaleren Betrachtungsweise.
Die Ausstellung belegt, dass die Hierarchisierungsthese von Georg Simmel, wonach Entwicklungen von oben nach unten verlaufen, ergänzt werden muss durch das Konzept des Aufsprudelns von Ideen von unten, „von der Straße“, die, deutlich erkennbar seit den frühen siebziger Jahren, die Designer beeinflussen. So griff beispielsweise Yves Saint Laurent den seinerzeit virulenten Folklore-Look auf, und Vivienne Westwoods Entwürfe waren vom Punk-Stil der Londoner Subkultur inspiriert.
Das TextilWerk Bocholt nennt sich „Forum für Textilkultur“. Es ist erkennbar, dass hier die Tradition der alten Textilregion bewahrt und gleichzeitig zu neuen Ufern aufgebrochen wird. Es geht lebendig zu in der Provinz. Eine Reise lohnt sich, auch wenn Bocholt weit ab vom Schuss liegt.
Text: © Rose Wagner Fotos: © Rose Wagner (soweit nicht anders angegeben)
Titelfoto: Ausstellungsansicht, Modelle aus den 1960er Jahren, private Leihgaben
Überarbeitete Fassung der Erstveröffentlichung vom 24.09.2012 in Netzwerk Mode und Textil