Altlust – 1000 Jahre Nachnutzung im Dom zu Brandenburg
Dommuseum Brandenburg, Brandenburg an der Havel > 05.05.-31.10.2017

Eine sehenswerte Ausstellung des Dommuseums Brandenburg beschäftigt sich damit, wer aus welchen Gründen vor der Reformation kostbare profane Gewänder zur Umarbeitung in Priesterkleider stiftete, was diese Textilien über die wechselnden Landesherrschaften in der Mark Brandenburg verraten und wie die Geschichte nach der Glaubenswende weiterging.

Im bunten Reigen der vielen Veranstaltungen zum 500jährigen Reformationsjubiläum sticht die Ausstellung durch ihre Fokussierung auf die gängige Praxis der Nachnutzung hervor. Mit diesem treffenden, wenn auch recht altbackenen Begriff bezeichnen die Macher der Ausstellung unterschiedliche Aspekte von Wiederverwertung und Weiterverwendung. Die übergeordnete Frage lautet: Was passierte mit den Objekten und Materialien im Dom, die im Laufe der Zeit in ihrem Ursprungszusammenhang nicht mehr benötigt wurden oder nicht mehr erwünscht waren?

Untersucht werden verschiedene Formen der Nachnutzung beim Dombau, bei den sakralen Kunstwerken und bei den liturgischen Textilien. Im folgenden soll es nur um die Paramente gehen.

Der Brandenburger Dom ‒ Grundsteinlegung im Jahr 1165 ‒ besitzt eine der bedeutendsten Sammlungen von mittelalterlichen Paramenten (= liturgische Gewänder, Vorhänge und Tücher) im norddeutschen Raum, wenngleich der Bestand, gemessen an dem, was einst vorhanden gewesen sein muss, nicht sonderlich groß ist. Doch wenn man bedenkt, dass Textilien wegen ihrer Empfindlichkeit zu den besonders gefährdeten historischen Zeugnissen gehören, kann man über das noch Vorhandene nur staunen, zumal der größte Teil der Brandenburger Paramente bis ins 18. Jahrhundert hinein in Gebrauch und somit dem Verschleiß ausgesetzt war.

Die Sammlung umfasst vor allem Gewänder. Mit der wissenschaftlichen Erschließung und der Restaurierung wurde schon zur DDR-Zeit begonnen. Seit 2002 unterhält der Brandenburger Dom eine eigene Restaurierungswerkstatt.

Viele der prächtigen Priestergewänder dürften ursprünglich Roben von Mitgliedern des kurfürstlichen Hofes oder von anderen hochrangigen weltlichen Persönlichkeiten gewesen sein.

Dalmatik (= Gewand für den Diakon), Brokatsamt, Italien, Ende. 15. Jh. Vermutlich aus Frauenrobe gefertigt. Stifterwappen am Saum vermutlich von Kurfürst Albrecht Achilles und seiner Frau Anna von Sachsen. Foto © Rose Wagner

Dalmatik (= Gewand für den Diakon), Brokatsamt, Italien, Ende. 15. Jh. Vermutlich aus Frauenrobe gefertigt. Stifterwappen am Saum vermutlich von Kurfürst Albrecht Achilles und seiner Frau Anna von Sachsen. Foto © Rose Wagner

Die kostbaren Gewandstoffe stammen aus den Zentren der italienischen Seidenweberei, die Bildstickereien auf den Besätzen der Messgewänder dagegen aus den heimatlichen Regionen der Herrscherdynastien. Die Stickereien aus dem späten 14. und frühen 15. Jahrhundert – Zeit der luxemburgisch-böhmischen Landesherrschaft – können auf die Handschrift böhmischer Künstler zurückgeführt werden, später gefertigte deuten auf fränkischen Ursprung. Der Nürnberger Burggraf Friedrich VI. von Hohenzollern (1371-1440) hatte 1415 als Kurfürst Friedrich I. das Zepter in Brandenburg übernommen und als eine Folge schlugen sich fränkische Handwerkstraditionen auf Messgewändern in der Mark nieder.

Die Schenkung einer persönlichen Prachtrobe für die Fertigung eines Priestergewandes diente der Selbstdarstellung und zielte auf die Sakralisierung der eigenen Person ab, denn der Stifter des ursprünglichen Gewandes blieb nach mittelalterlicher Vorstellung in der Schenkung präsent. Den wertvollen Schenkungen lagen nicht selten politisches Kalkül und Machtanspruch zugrunde, und auch das Seelenheil im Jenseits sollte durch die Gabe gesichert werden.

Die Pracht mittelalterlicher Paramente geht auf eine alttestamentarische Forderung zurück, wonach die außerweltliche Herrlichkeit Gottes durch kostbare und kunstvolle Messgewänder vermittelt werden soll. Ein prunkvoller Ornat dient nicht der Selbstdarstellung des Priesters, sondern symbolisiert die Königsherrschaft Christi.

Ein Spitzenstück unter den Brandenburger Paramenten ist die Schwanenordenskasel, benannt nach dem Hausorden der Hohenzollern. Die Ordenskette ist auf der Schauseite des Messgewandes als Relief aufgestickt. Sie zeigt die Wappen der von Kurfürst Friedrich II. beanspruchten Landesherrschaften.

P1110101

Detail aus der Schwanenordenkasel, Gewandstoff Italien, um 1440, Reliefstickerei und Montage, Franken, 1471. Foto © Rose Wagner

Friedrich II. hatte für die Fertigung der Kasel (= liturgisches Obergewand) seine eigene Prunkrobe aus purpurfarbenem Brokatsamt mit Goldfaden zur Verfügung gestellt. Die Farbe Purpur war dem Kaiser und den Kurfürsten vorbehalten. Die Vorderseite der Kasel – also die den Gläubigen abgewandte Seite – ist aus mehreren kleinen Stoffstücken zusammengesetzt, für die Schauseite wurden weniger und größere Stücke verwendet. Für die hohe Kunst des Gewandschneiders spricht, dass trotz der Stückelung die gleiche Webrichtung eingehalten und ein einheitliches Muster bewahrt wurde.

Bei einer anderen Kasel ergab die Analyse, dass sie erst in Drittverwendung zum Priestergewand umgearbeitet wurde. Ursprünglich war sie eine prunkvolle Frauenrobe, die dann zu einem Kindergewand umgearbeitet wurde, später wurde daraus die Kasel geschneidert. Die Plissierfalten der Frauenrobe und die Miederteile des Kinderkleides sind noch erkennbar.

Kasel in Drittverwendung, Gewandstoff Italien, um 1440. Foto © Rose Wagner

Kasel in Drittverwendung, Gewandstoff Italien, um 1440. Foto © Rose Wagner

Nach der Religionswende war – jedenfalls bei den Protestanten – Schluss mit der Umarbeitung getragener profaner Gewänder zu Priesterkleidern. Es kam zu anderen Formen der Nachnutzung, manche davon desaströs, andere ohne materiellen Schaden für das betroffene Parament.

Das älteste der Brandenburger Paramente ist das erstaunlich gut erhaltene Hungertuch vom Ende des 13. Jahrhunderts, auf dem in 33 gestickten Medaillons die Lebensgeschichte Jesu Christi erzählt wird.

Detail aus dem Hungertuch von 1290. Foto © Rose Wagner

Detail aus dem Hungertuch von 1290. Foto © Rose Wagner

Vor der Reformation diente das Hungertuch zur Verhängung des Altars in der Fastenzeit, und wenn die aufgehende Sonne in den Kirchenraum fiel, wurden bestimmte Details des Tuches, die durchbrochen gearbeitet waren, zum Leuchten gebracht. Nach der Reformation galt dieser Effekt als Gaukelwerk, und das Tuch wurde fortan nur noch als Altardecke verwendet, was seine optische Wirkung schmälerte, dem Material aber nicht schadete.

Zu irreparablen Schäden führte dagegen die Nachnutzung bei einem prachtvollen Chormantel aus dem 15. Jahrhundert, er wurde zum Abdecken einer Truhe in der Sakristei verwendet. Die Folge waren großflächige Abriebstellen und völlig verbliche Farbe des einst purpurroten Priestermantels.

Es mutet paradox an, dass sich ausgerechnet in einer evangelischen Kirche mittelalterliche Paramente aus der katholischen Glaubenszeit erhalten haben. Das liegt daran, dass die lutherisch geprägten nördlichen Regionen weitgehend vom Bildersturm verschont blieben. In Gegenden, in denen sich die Calvinisten durchgesetzt hatten, wurde alles Papistische – also auch die Paramente – vernichtet. Luther dagegen befand, dass die vorreformatorischen Paramente weder schadeten noch nützten, also wurde das meiste weiterverwendet, und Kurfürst Joachim II. (1505-1571) ließ 1540 in einer Kirchenordnung festschreiben, dass es mit den Paramenten wie von altersher weitergehen sollte. Er hatte gewichtige Gründe, es sich nicht völlig mit dem Papst zu verderben. Das kam den Paramenten zugute, und die neureformierten Domherren freute es, legten sie doch trotz neuer Glaubensrichtung modisch keineswegs eine protestantische Zurückhaltung an den Tag.

links, Kasel, in Zweitverwendung nach der Reformation aus wertvollem Behang geschneidert; rechts Albe, mit Resten des Stoffes besetzt; Umarbeitung letztes Drittel 16. Jh. Foto © Rose Wagner

links, Kasel, in Zweitverwendung nach der Reformation aus wertvollem Behang geschneidert; rechts Albe, mit Resten des Stoffes besetzt; Umarbeitung letztes Drittel 16. Jh. Foto © Rose Wagner

In katholischen Domstiften haben sich relativ wenige Paramente aus der Zeit vor der Reformation unverändert erhalten. Das Konzil von Trient – 1545 bis 1563 – führte mit seiner Liturgiereform zu schnitttechnischen Veränderungen bei den Messgewändern.

Das Überdauern der vorreformatorischen Paramente in Brandenburg ist auch dem optimalen Raumklima in der Sakristei zu verdanken sowie den für die Lagerung besonders geeigneten Schränken und Truhen. Sie sind vollzählig erhalten. Förderlich war auch die jahrhundertelange sorgfältige Pflege des Bestandes, die sich nicht nur an den Textilien selbst, sondern auch anhand überlieferter Inventarlisten nachvollziehen lässt.

Giebelschrank zur Aufbewahrung von Paramenten, um 1300. Foto © Rose Wagner

Giebelschrank zur Aufbewahrung von Paramenten, um 1300. Foto © Rose Wagner

Eine schwere Zeit brach im 19. Jahrhundert an. Das Mittelalter wurde während der Regierungszeit der preußischen Könige als Epoche mystifiziert, in der die eigene nationale Identität begründet wurde, und im Dom zu Brandenburg wurden wertvolle mittelalterliche Paramente jahrzehntelang in einem Glasschrank ‒ gnadenlos dem Sonnenlicht ausgesetzt ‒ dem Publikum zugänglich gemacht.

Auch das seit dem frühen 19. Jahrhundert einsetzende allgemeine Interesse an historischen Hinterlassenschaften schadete den Paramenten. Der Aachener Kanoniker Franz Bock (1823-1899) – schon zu Lebzeiten unter dem Namen Scheren-Bock bekannt – wollte alte Textilkunsttraditionen auf Basis historischer Vorbilder wiederbeleben. Bock, der mit einer Krefelder Seidenweberei kooperierte, trennte – nicht immer mit Erlaubnis – Musterproben aus kirchlichen Paramenten-Beständen heraus. Im Dom zu Brandenburg, den er 1853 aufsuchte, hatte es ihm ein Seidenstoff mit Hirschmotiv besonders angetan. Er schnitt aus einem Chormantel große Teile heraus und verleibte sie seiner Mustersammlung ein.

Chormantel, Gewandstoff Italien, Hirschmuster, 14. Jahrhundert, große Abschnitte des Stoffs von Franz Bock herausgeschnitten, restaurierter Zustand 2013. Foto © Rose Wagner

Chormantel, Gewandstoff Italien, Hirschmuster, 14. Jahrhundert, große Abschnitte des Stoffs von Franz Bock herausgeschnitten, restaurierter Zustand 2013. Foto © Rose Wagner

Aus einem halben Dutzend weiterer Paramente des Domschatzes sind ebenfalls Teile herausgetrennt, Bock wird auch für diesen Frevel verantwortlich gemacht.

Über die Vielfalt der geistlichen Mode in der Zeit vom 13. bis zum 18. Jahrhundert vermittelt eine Domherrenmodenschau im ehemaligen Winterrefektorium einen Eindruck. Die Muster-Ornate wurden nach Darstellungen auf alten Grabsteinen gefertigt.

P1100610

Nachbildung des Ornats von Propst Peter von Thure, gest. 1282. Foto © Rose Wagner

Die Pracht mittelalterlicher Messgewänder kann auf diese Weise allerdings nicht vermittelt werden. Ihre Wirkung beruhte auf den verarbeiteten Luxusstoffen, die schimmerten und glänzten, den kunstvoll gestickten Bildprogrammen, eingebunden in rituelle Handlungen.

Nachbildung des Ornats von Bischof Stephan Bodecker, gest. 1459. Foto © Rose Wagner

Nachbildung des Ornats von Bischof Stephan Bodecker, gest. 1459. Foto © Rose Wagner

Die Gewänder in der Domherrenmodenschau wirken im kalten Licht des Winterrefektoriums schlicht und glanzlos, beim Anblick der weißen Untergewänder kommen einem Bettlaken in den Sinn.

Nachbildung des Ornats von Dekan Peter Diericke, gest. 1510. Foto © Rose Wagner

Nachbildung des Ornats von Dekan Peter Diericke, gest. 1510. Foto © Rose Wagner

In den verdunkelten Ausstellungsräumen des Museums, wo in spiegelnden Glasvitrinen die alten Stücke ausgebreitet sind, lässt sich dagegen noch ein wenig vom Zauber ahnen, der im Kerzenlicht des Kirchenschiffes von den golddurchwirkten Gewändern ausgegangen sein muss.

Zur Ausstellung erschien ein lesenswerter Begleitband:
Schnurbein, Rüdiger von (Hg.): Altlust – 1000 Jahre Nachnutzung im Dom zu Brandenburg. Berlin, Verlag für Berlin-Brandenburg, 2017.

 

Titelbild: Aufwendige Reliefstickerei auf einer mittelalterlichen Kasel.  Foto © Rose Wagner