Wie alle Textilien gehen auch Paramente – Tücher, Vorhänge und Gewänder im kirchlichen Raum – mit der Zeit. Im Laufe der zweitausendjährigen Geschichte des Christentums haben sich Bildwelten und Frömmigkeitsformen immer wieder gewandelt, und Konzile, Kunstperioden und Reformation schlugen sich in den Formen und Farben der kirchlichen Textilien nieder.
Der Farbkanon für das Kirchenjahr (weiß/gold, grün, violett, rot) ist seit dem 16. Jahrhundert – Konzil von Trient – unverändert.
Das Wort Parament geht auf das lateinische parare = bereiten oder schmücken zurück. Paramente sollen bestimmte Aspekte der Liturgie visuell erlebbar machen sowie zentrale Orte des Kirchenraumes schmücken und hervorheben.
Während in der katholischen Paramentik die Gewänder der Priester im Mittelpunkt stehen, werden in der evangelischen Paramentik der Altar und die Kanzel betont.
Die evangelische Paramentik wurde durch den Pfarrer Wilhelm Löhe (1808-1872) in Neuendettelsau bei Ingolstadt begründet. In seiner Schrift „Vom Schmuck der heiligen Orte“ heißt es: „Das Sakrament ist die Fülle und das gesamte Paramentenwesen die Hülle“. Das Spezifische an der evangelischen Paramentik ist die Verschiebung der Aufmerksamkeit weg von den Priestergewändern hin zu den „heiligen Orten“.
Der katholische Priester tritt als direkter Mittler zwischen Himmel und Erde auf. Sein aufwendiges, aus mehreren Kleidungsstücken bestehendes Messgewand geht auf eine Forderung im Alten Testament zurück, wonach Priestergewänder zur Darstellung außerweltlicher Herrlichkeit kunstvoll und kostbar sein sollen.
Der evangelische Pastor ist Teil einer Gemeinde von prinzipiell Gleichen und hat die Aufgabe, das Wort Gottes in verständlicher Sprache zu verkünden. In den meisten evangelischen Kirchen wird die Kanzel – als Ort der Predigt – durch ein Antependium (textile Verkleidung des Unterbaus, Vorhang) besonders hervorgehoben.
Ein Ergebnis der Reformation war eine Reduzierung der Ausstattung des Kirchenraumes sowie Zurückhaltung bei Schnitt, Material und Ästhetik der gottesdienstlichen Gewänder. Das schloss nicht aus, dass die alten Messgewänder der katholischen Kirche in manchen lutherisch geprägten Regionen in Gebrauch blieben. Martin Luther war kein Bilderstürmer. Im Land Brandenburg blieb die geistliche Mode sogar bis Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend unverändert, und die vorreformatorischen Gewänder wurden weiterverwendet.
Der schwarze Amtstalar der protestantischen Pfarrer wurde erst 1811 durch den preußischen König Friedrich Wilhelm III. in seinem Herrschaftsgebiet verbindlich eingeführt.
Die Blütezeit der liturgischen Textilkunst lag im Mittelalter. In Klöstern bestickten Nonnen über Monate, wenn nicht Jahre in kleinen Gruppen ein einziges Parament geduldig und kunstvoll. Manche der kostbaren liturgischen Textilien haben Jahrhunderte überdauert und können in verdunkelten Vitrinen in Domschatzkammern oder anderen Museen bewundert werden.
Bis weit ins 19. Jahrhundert war es durchaus üblich, dass die weiblichen Mitglieder regierender Herrscherhäuser Paramente bestickten, heute ist das nicht mehr vorstellbar. Doch es gibt Ausnahmen. Im September 2016 überreichte Königin Margarethe II. – Oberhaupt der dänischen protestantischen Kirche – anlässlich der feierlichen Wiedereröffnung der Schlosskirche zu Wittenberg nach langer Renovierung ein von ihr selbst gefertigtes Altar-Antependium. Es ist mit einer Lutherrose bestickt, dem Symbol der Theologie des Reformators. Die Königin arbeitete – nach eigenen Angaben – 500 Stunden daran.
Heute werden Paramente fast ausschließlich von hochqualifizierten Handwerkerinnen und Designerinnen in speziellen Werkstätten gefertigt, von denen einige aus Klöstern, Stiften oder Diakonissenhäusern hervorgegangen sind. Eine Zusammenarbeit mit Künstlern, Kunstbeauftragten der Kirchen und Architekten ist mittlerweile selbstverständlich.
Der erwähnte Pfarrer Löhe hatte 1858 in Neuendettelsau die erste evangelische Paramentenwerkstatt eröffnet. Im Jahr 1862 folgte die Gründung des Niedersächsischen Paramentenvereins im Kloster St. Marienberg in Helmstedt. Beide Einrichtungen zählen noch immer zu den führenden Ateliers für liturgische Textilien. Neuendettelsau lieferte Antependien für die wiederaufgebaute Frauenkirche in Dresden, St. Marienberg für die neue Universitätskirche in Leipzig.
Den Werkstätten kommt eine kaum zu unterschätzende Bedeutung für die ästhetische Entwicklung im Paramentenwesen zu. Wenn sich eine Gemeinde entscheidet, ein Antependium speziell für ihren Kirchenraum fertigen zu lassen, schlägt ihre Stunde.
Die Haltbarkeit liturgischer Textilien liegt in der Regel zwischen 50 bis 100 Jahren. Ein Austausch erfolgt, wenn sie verschlissen sind oder als überholt empfunden werden. Meistens ist die Renovierung einer Kirche der Anlass für eine Neuanschaffung.
Für den Gemeindevorstand, der sich mit dem Gedanken trägt, die Anfertigung eines Paramentes in Auftrag zu geben, stellen sich viele Fragen:
Kann und soll das alte Parament repariert werden? Soll sich das neue in Material, Form und visuellem Stil am alten orientieren? Leinen, Wolle oder synthetischer Stoff? Fransen? Traditionelle christliche Symbole? Kreuz, Ähren, Fisch, Anker oder Weinreben? Soll das Parament den Zeitgeist der Vergangenheit oder der Gegenwart widerspiegeln? Soll es in die Zukunft weisen? Soll es möglichst ewig oder nur zwanzig Jahre halten?
Die wichtigste Frage lautet: Was kostet es?
Handgefertigte Paramente sind Unikate und haben ihren Preis. Ein Altar-Antependium kann leicht auf 3.500 Euro kommen. Nicht nur Material und Handarbeit schlagen zu Buche, sondern auch die zeitintensive Beratung. Nach der Erfahrung einer interviewten Paramentikerin kann allein die Erörterung der Farbgestaltung des gewünschten Paramentes bis zu 90 Minuten in Anspruch nehmen.
Standardisierte Massenware aus einem Online-Shop für liturgische Textilien ist billiger und schneller lieferbar.
Die Rahmenbedingungen der christlichen Kirchen haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert, ihre Bindungskraft lässt nach; die Einnahmen aus der Kirchensteuer sinken. Die Anschaffung eines Paramentes scheint nicht vordringlich.
Nicht einmal mehr alle Gemeindemitglieder sind mit der christlichen Symbolik und Liturgie vertraut. Ein Pfarrer sagte im Interview: „Die christliche Symbolik ist im Niedergang. Die Symbole werden nicht mehr verstanden. Wir haben unsere Liturgie abgespeckt. Leider fehlt auch das Gespür für unser Parament, manchmal hängt es schief“.
In den Kirchengemeinden finden sich immer seltener Ehrenamtliche, die sich mit der Pflege empfindlicher Textilien auskennen.
Manche Kirche dient als Multifunktionszentrum für unterschiedliche Religionsgemeinschaften, Flüchtlingsinitiativen, Obdachlosenhilfe und Stadtteilgruppen sowie für andere kulturelle und sozialpolitische Events.
Seit den 1980er Jahren wurden aus vielen evangelischen Kirchen die Kirchenbänke entfernt und stattdessen mobiles Mobiliar angeschafft, das sich vielfältig nutzen lässt. In der Martin-Luther-Kirche in Berlin-Neukölln sind auch Altar und Kanzel mobil, und selbst das Kreuz kann bei Bedarf beiseitegeschoben werden.
Paramente müssen unter diesen Bedingungen Akzente setzen und Ruhe in das Miteinander vieler Stile und unterschiedlicher Anforderungen bringen.
Paramente sind mehr als handwerklich perfekte, hübsch gestaltete Stückchen Stoff. Bei der Beratung durch die Werkstätten geht es deshalb nicht nur um ästhetische Aspekte, den Ortsbezug der Paramente sowie die angemessenen liturgischen Farben. Es geht auch um Stärkung des Selbstbewusstseins der Gemeinden, die sich in einem schwierigen Umfeld behaupten müssen.
Mit radikal neuen Formen und temporären Hängungen wird in der Paramentenwerkstatt Neuendettelsau experimentiert.
Während des Evangelischen Kirchentages im Mai 2017 wurden in Berlin zwei Installationen gezeigt, mit denen ein Sakralraum auf ungewöhnliche Weise inszeniert werden kann. Dieser Typ von Parament – wenn der Begriff überhaupt noch passt – ist von vornherein auf Veränderung angelegt, er ist fluid und sensuell.
In die Mitte der Reformationskirche in Berlin-Moabit hängte sie ‒ vom Kirchendach aus ‒ 10 Meter lange Bahnen aus transparentem weißen Stoff. Sie bildeten einen raumfüllenden äußeren Würfel mit der Anmutung eines riesigen Zeltes, das jedoch nicht geschlossen war, sondern viele Zugänge bot. Im Inneren befand sich ein zweiter, kleinerer Würfel aus ebenfalls lose hängenden Stoffbahnen, diese jedochhauptsächlich in Grüntönen.
Die Installation sollte zur Meditation und Kontemplation über Sichtbares und Unsichtbares einladen. Der Blick von außen war ein anderer als von innen. Wer ins Innere der Paramenten-Installation wollte, musste die Stoffbahnen teilen.
Vom weißen Quader löste sich eine einzelne Stoffbahn und führte zum Altar. Dessen Bedeutung als Tisch für das Abendmahl wurde damit für jeden ersichtlich. Auch der Verzicht auf jede andere sichtbare Symbolik als die geraden Stoffbahnen in den Farben Weiß (= Unschuld, Grabtücher Jesu, Abendmahltuch) und Grün (= Hoffnung, lebendiges Wasser, Wachstum) machte diese Installation bemerkenswert.
Ein zweites temporäres Paramentik-Experiment führte Beate Baberske in einer unwirtlichen Halle des Messegeländes in Berlin durch, auf dem viele Veranstaltungen des Kirchentages stattfanden. Hier hängte sie ebenfalls einen überdimensionierten Stoffwürfel auf, der durch eine besondere Schichtung der Stoffbahnen etwas Labyrinthisches hatte. Auch hier ging es um Innen- und Außensicht.
Für beide Installationen wurde synthetisches Gewebe ‒ Trevira ‒ verwendet, das lichtecht und nicht brennbar ist. Synthetische Fasern sind preisgünstiger als natürliche; werden große Stoffmengen benötigt, kommt ohnehin kein anderes Material in Frage.
Im Paramentenwesen ist viel in Bewegung, nicht nur beim Material und der Formgebung.
In Gotteshäusern wird immer häufiger elektronische Technik eingesetzt. Liednummern, Liedertexte und Texte von Gebeten werden mittels Beamer an die Kirchenwand projiziert. Mit dem Beamer können auch bewegte Bilder auf die Kanzel projiziert werden. Virtuelle statt textiler Antependien sind denkbar.
Auch bei den Gewändern tut sich einiges, und das Monopol des schwarzen Amtstalars mit Beffchen wird in Frage gestellt. Die liturgischen Gewänder sind und bleiben aus Stoff.
Titelbild: Altar-Antependium für die Schlosskirche zu Wittenberg, gefertigt von Königin Margarethe II. von Dänemark. Foto © Rose Wagner