Buchbesprechung:
Annette Hülsenbeck: (Hg.): Die Kleider meines Lebens: Erzählungen von Margaret Atwood bis Virginia Woolf
Berlin, Ebersbach & Simon, Edition Blue Notes, Bd. 67, 2017. 140 S.
In Margaret Atwoods Geschichte Haar-Andenken trägt die Ich-Erzählerin viel zu große und zu formlose Kleider. Wenn sie sich überhaupt etwas Neues kauft, dann im Warenhaus Filene in Boston, wo es an Ausverkaufstagen im Untergeschoss hoch hergeht, wenn “zerrissene und angestaubte Modellkleider” zu Schleuderpreisen verramscht werden. Der ganze Keller ist “muffig vom Geruch beklommener Achselhöhlen und gequälter Füße”, und weil es für die vielen „gierigen“ Frauen zu wenige Kabinen gibt, probieren sie die Ramschkleider gleich auf den Gängen an (S. 91).
Von einem neuen Kleid erhoffen sich die Frauen eine Verschönerung und positive Veränderungen in ihrem Leben. Die Ich-Erzählerin dagegen möchte durch zeltartige Hüllen möglichst unsichtbar werden ‒ und erreicht mit ihrer grotesken Gewandung genau das Gegenteil.
Die Erzählung von Margaret Atwood ist eine von sieben in der Anthologie „Die Kleider meines Lebens“. Für die Protagonistinnen der epischen Kurztexte sind mit den Kleidern Gefühle, Wünsche und Erfahrungen unterschiedlichster Art verbunden. Kleidung ermöglicht das Spiel mit verschiedenen Identitäten und das Ausfüllen unterschiedlicher Rollen; sie kann Zugehörigkeit ausdrücken oder ausgrenzen, sie kann disziplinieren oder befreien, schmücken oder verunstalten.
Die Anthologie erscheint in der Edition Blue Notes, in der sich alles um Frauen dreht; Frauen als Musen, Frauen als Schriftstellerinnen, Frauen in den Ferien und dergleichen. Annette Hülsenbeck, die Herausgeberin der vorliegenden Anthologie, ist laut Verlagsinformation Textil- und Bekleidungswissenschaftlerin an der Universität Osnabrück mit dem Forschungsschwerpunkt „Kleidung in literarischen Texten“.
Der Untertitel der Anthologie ‒ „Erzählungen von Margaret Atwood bis Virginia Woolf“ ‒ weckt die Erwartung einer umfassenden Sammlung epischer Kurztexte von Schriftstellerinnen. Doch umfassend ist die Anthologie nicht. Vier der Texte stammen von Schriftstellerinnen aus dem angelsächsischen Sprachraum und drei von deutschen; die Texte sind zwischen 1912 und 2015 entstanden, sie werden nicht in chronologischer Reihung abgedruckt. Zeitlich überspannen die Texte ein ganzes Jahrhundert und geografisch mehrere Kontinente.
Erzählort, Erzählzeit und Erzählperspektive wie auch Struktur und Stil der Texte sind erfrischend unterschiedlich, und so kommt trotz siebenfacher Variation des Grundthemas Kleidung keine Langeweile auf.
Den Auftakt des Erzählreigens macht Virginia Woolf mit „Das neue Kleid“. Die von Selbstzweifeln gepeinigte Mabel putzt sich für eine Abendgesellschaft mit einem „blassgelben, idiotisch altmodischen Seidenkleid“ (S. 9) heraus. Ihre „eigene entsetzliche Unzulänglichkeit“ (S. 8) macht den Abend für sie zur Qual. Daran hätte auch eine modischere Garderobe nichts geändert, denn Mabel fehlt es an Stilempfinden und Selbstbewusstsein.
Ein namenloses, armes und „unberatenes“ Mädchen erhofft sich in Marieluise Fleißers Erzählung „Ein Pfund Orangen“ von einem modischen „Kleidchen“ und feinen Strümpfen Glück in der Liebe. Sie gibt ihr ganzes Geld dafür aus, doch das Glück stellt sich nicht ein.
In „Rotes Kleid“ von Alice Munro näht eine Mutter ihrer dreizehnjährigen Tochter für ein Schulfest ein rotes Samtkleid, in das die mütterlichen Vorstellungen von Weiblichkeit einfließen.
In Katherine Mansfields Erzählung „Neue Kleider“ werden zwei in Charakter und Temperament ungleiche Schwestern von ihrer Mutter mit selbstgenähten Kleidern aus grünem Kaschmir ausgestattet. Die Schwestern gehen auf unterschiedliche Weise mit den feinen Kleidern um.
Bei der „Familiengeschichte in Kleidern“ von Marie T. Martin handelt es sich um einen Auszug aus einem längeren Prosastück. Die Ich-Erzählerin – oder ist es die Autorin selbst? – charakterisiert ihre weiblichen Verwandten durch deren Kleidungsstücke.
In der bereits erwähnten Erzählung „Haar-Andenken“ von Margaret Atwood blickt die Ich-Erzählerin auf eine vor langer Zeit gescheiterte Beziehung zurück. Sie rekonstruiert, welche Kleidung sie damals trug und wo sie diese kaufte: „Das ist meine Technik, ich lasse mich durch die Erinnerung an Kleider auferstehen“ (S. 89).
Gerlind Reinshagens Erzählung „Das Hochzeitskleid“ spielt in der Nachkriegszeit. Es herrscht Mangel, und die Braut Inga hat kein Hochzeitskleid; das ist schlimm, denn „das Kleid ist die Hochzeit“ (S. 123). Mit einem Hochzeitskleid verbindet sich die Erinnerung an Luxus, Feste und Tafelfreuden. Rettung kommt, als die Hauswirtin Inga das Hochzeitskleid der Schwiegertochter leiht.
Ich hätte mir zum Einstieg in die einzelnen Erzählungen wenigstens rudimentäre Informationen über die Autorinnen und die Datierung ihrer Texte gewünscht. Das Quellenverzeichnis am Ende des Buches ist nicht sonderlich hilfreich, da lediglich die Daten der deutschen Übersetzungen für die fremdsprachigen Texte geliefert werden.
Wie bei allen Büchern aus der Reihe Blue Notes gibt es kein einordnendes Vorwort, sondern lediglich eine knappe Vorbemerkung des Verlages.
Die Erzählung der Kanadierin Margaret Atwood aus den 1970er Jahren weist die höchste narrative Komplexität auf. Die Selbstreflexivität der Ich-Erzählerin, einer angehenden Akademikerin, steht in denkbar großem Gegensatz zu dem sprachlosen, fast dumpfen Mädchen aus dem Arme-Leute-Milieu der 1920er Jahre in der Erzählung von Marieluise Fleißer.
Schade, dass Annette Hülsenbeck in ihrem resümierenden Nachwort kein Wort über ihre Auswahlkriterien verliert. Warum sind nur Texte von Schriftstellerinnen aus dem deutschen und dem angelsächsischen Sprachraum vertreten? Was sprach dafür, den Text von Marie T. Martin in die Sammlung aufzunehmen? Warum sind Autorinnen wie Brigitte Kronauer oder Elfriede Jelinek nicht vertreten, die noch andere Facetten zum Thema Frauen und Kleider hätten beitragen können? Die Herausgeberin geht in ihrem Nachwort ausführlich auf Jelinek ein, was verwundert, da diese in der Anthologie gar nicht vertreten ist.
In der erwähnten Vorbemerkung des Verlages heißt es: „Kleider mit ihrem Eigenleben und Facettenreichtum üben seit jeher eine besondere Faszination auf viele Schriftstellerinnen aus“. Nun üben seit jeher Kleider auch auf männliche Schriftsteller eine besondere Faszination aus, wie die Texte von Proust, Balzac, Maupassant und vielen anderen bezeugen. Ich hätte mir gewünscht, dass die Herausgeberin der Frage, ob Schriftstellerinnen das Thema Kleidung anders angehen als ihre männlichen Kollegen, einige Überlegungen gewidmet hätte. Nun ist die Leserin aufgerufen, sich selbst zu dieser Frage ihre Gedanken zu machen. Das ist auch nicht schlecht.
Das kleine Buch – Format 12×19 – liegt angenehm in der Hand und ist ansprechend gestaltet, mit einem Buchrücken aus blauem Leinen. Ich kann es als Reiselektüre empfehlen, und auch als Geschenk macht es sich sehr hübsch, deshalb liegt es auch in vielen Buchhandlungen gleich neben der Kasse.
Titelfoto: Illustration von Jan van Brock in La Gazette du bon temps, 1914