Seit Jahren bringe ich Kleidungsstücke zum Verschönen und Ändern zur Schneidermeisterin Renata Pawlik in Berlin-Charlottenburg. Laufkundschaft wie ich macht allerdings nur einen Bruchteil des Geschäftsaufkommens aus, den Umsatz bringen die Großkunden. So heißen bei Renata Pawlik die Modelabels, die bei ihr Prototypen oder die gesamte Kollektion nähen lassen.

Ladenfront. Foto © Rose Wagner

Ladenfront. Foto © Rose Wagner

Renata Pawlik betreibt eine Zwischenmeisterei. Typisch für das System der Zwischenmeistereien ist die Trennung von Produktion und Handel. Für kleinere Konfektionsunternehmen, die nicht – oder nicht alles – selbst fertigen können oder wollen, sind Zwischenmeistereien gesuchte Produktionsstätten. Hier wird genäht, was sich wegen seiner Komplexität oder geringer Stückzahlen einer massenhaften seriellen Fertigung und der Verlagerung in Niedriglohnländer entzieht. Zwischenmeisterinnen sind Könnerinnen ihres Fachs, und sie beschäftigen versiertes Personal, das auch unter hohem Zeitdruck anspruchsvolle Aufgaben fristgerecht erledigt.

In den Kleinserien, auf die Zwischenmeistereien spezialisiert sind, liegt die Stückzahl – in der Regel – zwischen drei und 30 Teilen pro Modell; im Einzelfall kann es aber ganz anders sein. Wenn sich ein bestimmtes Modell am Markt gut verkauft, erfolgen idealerweise Nachbestellungen. Dann werden bis zu 300 Teile pro Modell gefertigt; bei solchen Zahlen stoßen die Produktionsstätten allerdings an ihre Kapazitätsgrenzen.

Renata Pawlik. Foto © Rose Wagner

Renata Pawlik. Foto © Rose Wagner

Bei Zwischenmeistereien handelt es sich um eine Weiterentwicklung der Produktionsstätten des Verlagssystems aus der frühen Neuzeit. Ein Verleger vergab Aufträge an dezentrale Produktionsstätten oder einzelne Heimarbeiter, lieferte die Rohstoffe und Werkzeuge und übernahm den Absatz der Produkte. Im Zuge der industriellen Revolution wurde das Verlagssystem weitgehend vom Fabriksystem verdrängt. In abgelegenen Gegenden und für bestimmte Produktionsbereiche – wie die Fertigung exklusiver und diffizil zu verarbeitender Bekleidung – hielt sich das Verlagssystem bis ins 20. Jahrhundert – und in Berlin existiert es in Form der Zwischenmeistereien noch heute. Jetzt nehmen Modelabels die Rolle der früheren Verleger ein.

Zur Hochzeit der Berliner Konfektion – in den 1920er und 1930er Jahren – agierten Hunderte von Zwischenmeistereien parallel zu den Großbetrieben der industriellen Massenproduktion. Berliner Konfektionshäuser ließen in den Zwischenmeisterbetrieben die aktuelle Pariser Mode nachschneidern und besonders aufwendige Eigenkreationen für ihre anspruchsvolle Kundschaft fertigen.

Berlin hat zwar als Modestadt längst nicht mehr die Bedeutung von einst, doch mit rund 2.500 Modeunternehmen nimmt es wieder eine Spitzenstellung ein. Meistens handelt es sich um Klein- und Kleinstunternehmen. Zehn Modeschulen entlassen jedes Jahr Hunderte von hoffnungsvollen Designerinnen und Designern auf den Markt, und etliche gründen in Berlin ein Label. Doch nicht jeder Modeblütentraum erfüllt sich; die Labels kommen und gehen, nur wenige halten sich dauerhaft.

Davon kann Renata Pawlik ein Lied singen. Seit fünfzehn Jahren näht sie für Berliner Modelabels. Manche wurden treue Stammkunden – wie Kaviar Gauche und Wunderkind –, andere zogen auf der Suche nach preisgünstigeren Produktionsstätten weiter. Wieder andere verkalkulierten sich und mussten Insolvenz anmelden. Wenn sich ein Investor zurückzieht und das Label nicht über genügend Eigenkapital verfügt, geht die Geschichte traurig aus. Ein solcher Fall war Kilian Kerner, der ein Shooting Star der Berliner Modeszene war und ein wichtiger Großkunde von Renata Pawlik. Sein plötzlicher Ausfall musste durch Einwerbung neuer Kunden kompensiert werden. „In meiner Branche ist nichts stabil“, sagt sie, deren Zwischenmeisterei immerhin als erste Adresse gilt.

Erstklassige Qualität hat ihren Preis, den nicht jeder Designer zu zahlen bereit ist. Um Kosten zu senken, verlagerten einige der größeren Berliner Labels ihre Produktion nach Fernost. Doch mittlerweile stellt Renata Pawlik einen gegenläufigen Trend fest: „Viele kommen aus Asien zurück“. Manchmal wurden bei den gelieferten Waren Nacharbeiten nötig, und Zwischenmeister mussten zur Rettung von Verpfuschtem gerufen werden. Auch lange Lieferzeiten und der Zeitaufwand für die Zollformalitäten relativieren die Einsparungen durch die niedrigen Lohnkosten in Fernost. „Günstig, günstig, sehr günstig, das ist nicht immer der richtige Weg“, sagt Renata Pawlik dazu.

Blick in die Berliner Werkstatt. Foto © Rose Wagner

Blick in die Berliner Werkstatt. Foto © Rose Wagner

Die Branche hat Nachwuchssorgen. Nach Meinung von Renata Pawlik wird zu wenig und am Bedarf vorbei ausgebildet. Für den offiziellen zweijährigen Ausbildungsberuf der Änderungsschneider/in – früher hieß es Flickschneider – hat sie nur Verachtung übrig. „Das ist gar nichts!“

Versierte Schneiderinnen erhalten zwar mehr als den Mindestlohn, üppig entlohnt werden sie aber nicht, und zudem sind die Arbeitsbedingungen nicht leicht. Der Zeitdruck und die Hektik sind hoch, und oft ergeben sich Probleme wegen schwierig zu handhabender Stoffe oder unausgereifter Vorstellungen von jungen Designern.

Die Arbeitsschritte in der Schneiderei von Renata Pawlik sind so weit wie möglich zergliedert. Für das Absteppen, Säumen und Knopflochnähen werden Spezialmaschinen eingesetzt. Bei komplexen Designs sind der Arbeitsteilung jedoch Grenzen gesetzt, ebenso bei den kleinen Änderungsaufträgen der Laufkundschaft.

Renata Pawlik beschäftigt in ihrem Berliner Betrieb 10 Schneiderinnen und verzichtet selbst vor den arbeitsintensiven Modewochen auf die Einstellung von Saisonkräften. Deren Einarbeitung kostet zu viel Zeit; die Hochsaison wird mit Überstunden bewältigt.

Augenknopflochmaschine. Foto © Rose Wagner

Augenknopflochmaschine. Foto © Rose Wagner

Die Musterteile werden komplett in Berlin genäht. Die Kollektionsteile werden in Berlin zugeschnitten und zur Endfertigung ins grenznahe Polen gebracht. Noch sind dort die Lohnkosten niedriger als in Deutschland, und es stehen genug qualifizierte Schneiderinnen zur Verfügung, weshalb nicht nur Renata Pawlik in Polen nähen lässt.

Sie ist mit den Gegebenheiten in Polen bestens vertraut und spricht die Sprache fließend. In ihrer Person spiegelt sich die deutsch-polnische Geschichte wider. Ihre deutschstämmige Familie stammt aus der alten Handwerker- und Schneiderstadt Bromberg und litt unter der Zwangspolonisierung nach 1945; deshalb entschieden sich Renata Pawlik und ihre Eltern 1989 zur „Auswanderung“ nach Deutschland. Urgroßvater, Großvater und Vater waren auch Schneider, und so lag es nahe, dass Renata Pawlik in ihre Fußstapfen trat.

Vor zehn Jahren gründete sie in Polen einen Zweitbetrieb; außerdem kooperiert sie mit drei größeren polnischen Betrieben. Diese sind allerdings auf Massenproduktion spezialisiert und nicht auf Designer-typische Kleinserien mit ihren hohen Qualitätsanforderungen. Der Zeitaufwand für Absprachen und Kontrollen ist hoch, und Renata Pawlik verbringt viel Zeit in Polen. Über Skype hält sie ständigen Kontakt mit den polnischen Werkstätten, und selbst wer nur kurz in ihrer Charlottenburger Schneiderei vorbeischaut, erlebt das ständige Klingeln des Telefons und die auf Polnisch geführten Abstimmungsgespräche.

Zwischenmeistereien mögen eine lokale Berliner Besonderheit sein, doch auch sie bleiben von globalen Entwicklungen und Zwängen nicht unberührt. Bislang rechnete sich trotz der Transportkosten und des Zeitaufwandes für die Qualitätskontrolle die Produktion in Polen. Doch auch dort steigen die Sozialabgaben und Lohnkosten, und deshalb überlegen einige Berliner Zwischenmeistereien ernsthaft, zukünftig in Litauen oder Weißrussland nähen zu lassen, wo ebenfalls eine Textiltradition existiert und die Produktionskosten noch niedriger sind als in Polen.

Für das Berliner Modesystem hat Polen jedoch weiterhin eine enorme Bedeutung. Mit Unterstützung des Senats wurde das Projekt BerlinPoland gegründet mitsamt einer B2B Kontaktbörse, die Berliner Labels und Produzenten in Polen miteinander in Kontakt bringen sollen. Das Unternehmen Poge.Industries aus Ziebice (ehemals Münsterberg) in Schlesien bietet die Produktion von Kollektionsteilen ohne Vorfinanzierung an, was für die Labels eine enorme Entlastung bedeuten würde.

Wegen der großen Zahl von Labels besteht in Berlin ein besonders hoher Bedarf an unterstützenden Dienstleistungen. Wie viele Zwischenmeistereien heute in der Stadt arbeiten, vermag niemand mit Bestimmtheit zu sagen, selbst nicht die zuständige Abteilung des Senats; Zwischenmeistereien werden in der amtlichen Statistik nicht gesondert gelistet. Außerdem verläuft die Entwicklung dynamisch; bei den Dienstleistungsunternehmen kommt es zu Ausdifferenzierungen und Mischformen, und neue Tendenzen zeichnen sich ab. So haben sich beispielsweise Produktionsagenturen entwickelt, die für junge Labels die Stoffbestellung organisieren und Näharbeiten vermitteln.

So erfreulich die Entwicklungen bei den Dienstleistungen auch sind, so dramatisch schwächelt das Modesystem im Bereich des Einzelhandels.

Alle Glieder der Mode-Wertschöpfungskette sind aufeinander angewiesen. Keine weiß das besser als Renata Pawlik. Sie rechnet mit allem, bedient weiter ihre Laufkundschaft, optimiert die Abläufe, hält ihr Personal bei Laune, berät ihre Kunden und entwickelt nebenher neue Ideen für die Zukunft.

Schneiderei Renata Pawlik
Haubachstraße 39
10585 Berlin

Dank an Tanja Mühlhans für hilfreiche Anmerkungen
Titelbild: Detail in Renata Pawliks Werkstatt. Foto © Rose Wagner