Wer den Haushalt älterer Menschen auflösen muss, steht nicht selten vor einer Ansammlung von Knöpfen, Strick- und Häkelnadeln, Stopfgarn, ausgetrennten Reissverschlüssen, Päckchen mit Stoßband und bunten Knäueln aufgeribbelter Wolle. Doch niemand will das mehr, niemand braucht das mehr, und so wird alles weggeworfen.
Noch in den 1950er Jahren wurde Kleidung sorgsam gepflegt, ausgebessert und weiterverwertet, denn Stoffe und Nähmaterial waren teuer. Alles, was noch verwendbar war, wurde aufgehoben.
Diese Zeiten sind vorbei. Überfluss und Wegwerfmentalität bestimmen heute vielfach den Umgang mit Textilem, doch sie rufen auch eine Gegenbewegung auf den Plan. Recycling (Wiederverwertung) und Upcycling (Aufwertung) sind en vogue, und das Spektrum reicht von Second-Hand-Läden, Textil-Workshops bis hin zu Designer-Mode aus gebrauchter Kleidung.
Als Hauptstadt des Nachhaltigkeits-Chic gilt Berlin. Zweimal jährlich finden die Messen „Green Showroom“ und „Ethical Fashion Show“ statt, und Upcycling-Fashion-Touren machen Station bei Designern und Läden, die wie Pilze aus dem Boden schießen.
Zeiten des Mangels
Die Idee, aus gebrauchter Kleidung Neues zu kreieren, ist alt und hat in Deutschland eine lange Geschichte. In den Mangeljahren der Weltkriege mussten viele Frauen „Notkleider“ tragen, die aus unterschiedlichen gebrauchten Teilen zusammengesetzt wurden.
Resteverwertung wurde während der NS-Zeit ideologisch aufgeladen und galt als „Dienst an der Volksgemeinschaft“. Bereits wenige Tage vor Beginn des Zweiten Weltkriegs – Ende August 1939 – wurde neben anderen Gütern des täglichen Bedarfs der Bezug neuer Kleidung streng rationiert. Ab November desselben Jahres gab es die meisten Textilien, selbst Nähgarn, nur noch mit Bezugsschein, der “Reichskleiderkarte”. Der Textilmangel verschärfte sich während der Kriegsjahre.
Für viele Menschen kam es noch schlimmer, als sie 1945 nach Bombenhagel, Flucht und Vertreibung vor dem Nichts standen und nicht einmal mehr Altkleider aufzutreiben waren. In etlichen Museen finden sich Beispiele dafür, wie die Menschen mit Einfallsreichtum und Geschicklichkeit aus Resten und Abfall etwas Kleidsames schufen. Im Braunschweigischen Landesmuseum ( http://www.3landesmuseen.de/ ) steht man staunend und bewundernd vor einem Kostüm aus Flachs, das sich eine Frau gestrickt hatte, die nur noch das besaß, was sie nach ihrer Flucht aus Schlesien auf dem Leibe trug. Sie stoppelte nach der Ernte den restlichen Flachs vom Feld des Bauern ab, bei dem sie Unterkunft gefunden hatte, zog mit den Fingern den Bast von den Stengeln, drehte den Faden mit der Hand, feilte mühsam aus einem alten Regenschirm Stricknadeln und fertigte ein zweiteiliges Kleid in komplizierten Mustern. Wer verfügt heute noch über solche Fähigkeiten?
Die amerikanische Militärverwaltung gründete 1945 in ihrem Besatzungsgebiet eine Erfassungsstelle für Bestände der deutschen und amerikanischen Militärdepots, um dem großen Textilmangel abzuhelfen. Brautpaare konnten dort Fallschirmseide erhalten, um daraus Hochzeitkleider zu schneidern. Im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden ( http://www.mhmbw.de/ ) wird ein solches Brautkleid aufbewahrt.
Bis weit in die Nachkriegszeit brachten Modezeitungen Anleitungen, wie aus alten Decken und Fetzen aus der Flickenkiste etwas Kleidsames herzustellen sei: „Hübsches machen aus alten Sachen!“
Modemut vom Flohmarkt
Mit zunehmendem Wohlstand änderte sich seit den 1960er Jahren beim überwiegenden Teil der Bevölkerung die Einstellung zu gebrauchter Kleidung. Wer es sich leisten konnte, kaufte Neues. Es wurde zwar noch immer geflickt und ausgebessert, doch der Vorzug galt dem Neuen. Junge Frauen, die etwas Ausgefallenes suchten, sahen sich allerdings zunehmend auf Flohmärkten um. Second-Hand-Kleidung verlor für sie das Stigma der Bedürftigkeit und galt nun sogar als Ausweis von Modemut. Wäsche aus Großmutters Zeiten wurde zu Sommerkleidern umfunktioniert, inspiriert von Filmen wie „Der große Gatsby“ (1974).
Noch gab es keine global agierenden Textilketten wie Zara, die heute innerhalb von wenigen Wochen Mode in die Geschäfte bringen, die man gerade erst im Kino oder auf den Laufstegen der Fashion Weeks gesehen hat.
In den späten 1960er Jahren nahm eine Geschmacksrichtung ihren Anfang, die heute mit dem Begriff der „Destroyed Optik“ belegt wird. Damals fanden es junge Leute chic, ihre alten zerlöcherten Jeans weiterhin zu tragen. Sie wollten bewusst gammelig aussehen, um sich vom Adretten und Wohlgeordneten der älteren Generation abzusetzen. Auch ein Desinteresse am Konsum sollte demonstriert werden. Diese Attitüde verstärkte sich noch in der Punk-Bewegung der 1970er Jahre, die absichtlich Heiles zerstörte und die bis heute Couture und Mainstream-Mode beeinflusst.
Bricolage, Second-Hand und Ugly Chic
Die Bedingungen, unter denen heute Gebrauchtes weiterverwendet oder aufgewertet wird, sind nicht mehr vom Mangel geprägt, sondern von Überfülle und einem unbekümmerten Verhältnis zu Kleidung, das vor wenigen Jahrzehnten noch undenkbar war. In den Zeiten von Primark, H&M und Uniqlo kann jeder zu erschwinglichen Preisen modische Textilien erwerben. Weshalb sollten sie ausgebessert werden, wenn sie schadhaft sind?
Der niedrige Preis der Kleidung fördert eine Wegwerfmentalität und ruft eine Gegenbewegung auf den Plan. Mit Recycling und Upcycling sollen Ressourcen geschont und ein Bewusstsein für ökologische, kulturelle und soziale Aspekte geschärft werden. Einige Initiativen gehen darüber hinaus und lassen sich durch Material und Form abgelegter Kleidung zu neuen Kleiderarchitekturen anregen.
Einer der ersten, der die Frage nach dem Bewahrenswerten und dem Stellenwert von Neu-Interpretationen in die Couture einbrachte, war der Designer Martin Margiela. In den 1990er Jahren kombinierte er Vintage-Stücke und Ausschussmaterial zu Neuem und Bizarrem für eine egalitäre intellektuelle Kundschaft, die den Bricolage-Charakter der Entwürfe zu schätzen wusste. Die traditionellen Couture-Kundinnen hatten für dergleichen wenig Verständnis. Daran hat sich international noch nicht viel geändert, doch bei Besuchern der Berliner Filmfestspiele oder von Konzeptkunst-Vernissagen sieht man immer häufiger Kleidung mit Upcycling-Hintergrund.
Beim Upcycling mit konzeptionellem Anspruch exponiert sich das Berliner Label Schmidttakahashi besonders stark
( http://www.schmidttakahashi.de/ ). Die Designerinnen Eugenie Schmidt und Mariko Takahashi experimentieren mit gesammelter Altkleidung. Am Ende ihres kreativen Prozesses steht ein kühnes Design, dem jegliche Retro-Anmutung abgeht. Es weist eher in die Richtung Ugly Chic.
Finanziell hat ihr Upcycling-Konzept bislang noch keine Dividende eingebracht, zu ungewohnt sind die Kombinationen, welche Schmidttakahashi ihrem Ausgangsmaterial abgewinnen. Aber Einladungen zur Fashion Week in Paris und New York zeigen, dass ihr Ansatz in eine Richtung geht, die über das übliche Upcycling hinausreicht. Erfolg und Einfluss eines Labels lassen sich ohnehin nicht nur nach ökonomischen Kriterien bemessen.
Dass die mit intellektuellem Anspruch praktizierte modische Aufwertung alter Kleidung zukünftig zum Mainstream wird, ist nicht anzunehmen. Das menschliche Konsumbedürfnis scheint eine universelle Schwäche zu sein und dem Recycling und Upcycling Grenzen zu setzen. Doch Initiativen wie die des Labels Schmidttakahashi weisen in die richtige Richtung. Es ist schon viel gewonnen, wenn die Frage nach dem Verhältnis von Bewahrenswertem und notwendigem Neuen immer wieder neu gestellt wird.
Titelbild: Altkleider-Container in Berlin. Foto © Rose Wagner