Buchbesprechung

Guido Maria Kretschmer meint es gut mit den Frauen. Er will sie ermutigen, ihren Körper zu akzeptieren und „sich ihrer Figur zu stellen“. Für den Einkauf neuer Garderobe hält er folgenden Rat bereit: „Bitte geben Sie bei Ihrem Shoppingbummel nicht mehr Geld aus, als Sie haben“. Sein Stilratgeber „Anziehungskraft“ ist praktische Lebenshilfe.

Mit einem Stand auf dem Hippie-Markt in Ibiza begann Kretschmers Karriere. Heute entwirft er Uniformen für die Fluglinie Emirates und die Kempinski Hotels. Er gründete ein eigenes Label und präsentiert seine Kollektionen bei den Berliner Modewochen.

Altai-Kollektion 2014. Foto © S.O. Beckmann

Altai-Kollektion 2014.
Foto © S.O. Beckmann

Als Kommentator der Doku-Soap „Shopping Queen“ im Fernsehsender VOX erzielt er Quoten im zweistelligen Bereich. „Anziehungskraft“ schnellte auf Anhieb an die Spitze der Spiegel-Bestseller-Liste und hielt sich dort wochenlang.

Denis Scheck, Literaturkritiker des „Deutschlandfunk“, urteilte, das Buch sei sprachlich für den Müll. Doch diese Kritik trifft nicht den Kern der Sache, denn Kretschmers Stilratgeber liegt unterhalb der Schwelle der Literaturkritik. „Anziehungskraft“ ist ein Begleitbuch zur nachmittäglichen Styling Show „Shopping Queen“ und richtet sich an deren Fangemeinde. Und die erwartet Plauderei, Scherze und praktische Ratschläge, die niemanden überfordern. Auf Tiefe, Grammatik und gewählten Ausdruck kommt es nicht an.

In der VOX-Styling-Show wetteifern wöchentlich vier Kandidatinnen um den Titel einer „Shopping Queen“. Den dicken, dünnen, tätowierten, jungen, alten, groben oder zurückhaltenden Teilnehmerinnen wird ein Motto vorgegeben, etwa Date, Femme Fatale oder Klassentreffen. Dann schwärmen sie aus, versehen mit einem 500-Euro Einkaufsgutschein, um sich entsprechend auszustatten. Kretschmer kommentiert ihr Bemühen charmant, witzig und oft unverblümt. Einer Kandidatin rät er dringend zur Fußpflege, bevor sie barfüßig in Sandalen schlüpft. Mancher Teilnehmerin fehlt es an Grundlegendem. Kretschmer bewahrt sie vor größeren Fauxpas. Die Boshaftigkeit mancher seiner Bemerkungen wird von den Kandidatinnen gar nicht registriert. Es sind gut verhüllte Spitzen. Für die Konsumshow mit dem Profil einer Outfit-Analyse ist er ideal.

Sein Buch ist mit Anekdoten gewürzt und ähnelt in Stil und Diktion dem Niveau der Fernseh-Styling-Show. Den Kern bildet seine Typologie von zehn weiblichen Körperformen, darunter „das sympathische Brett“, „die große Walküre“ und „die Von-allem-etwas-zu-viel-Frau“. Für jeden Typ hält er Ratschläge bereit. Frauen mit großer Oberweite empfiehlt er einen perfekt sitzenden BH. Bei ausgeprägtem Gesäß gilt: „Oben darf Muster, unten etwas dunkler“, bei erheblicher Leibesfülle wird Verzicht auf querlaufende Streifen angemahnt.

Ein ganzes Kapitel widmet er Fragen der Organisation des häuslichen Kleiderschranks und der Wäschepflege. „Ausgeleierte Unterwäsche, Socken mit Löchern, Strumpfhosen mit Laufmaschen und beschädigte Kleidungsstücke schmeißen Sie in den Müll. Seien Sie dabei wirklich rigoros“. Und noch etwas gibt er seinen Leserinnen mit auf den Weg: „Was du liebst, musst du pflegen!“

Stilratgeber wie „Anziehungskraft“ scheinen eine Lücke zu schließen. In der Sozialisation vieler Mädchen und Frauen kommen ästhetische Bildung, Stilberatung sowie praktische Textil- und Warenkunde zu kurz. Wenn der modische Tausendsassa Guido Maria Kretschmer auf unterhaltsame und nicht erkennbar diffamierende Weise Frauen, die nicht aus einem geschmackssicheren Elternhaus kommen, zu größerer Stilsicherheit und entspannterem Körperbewusstsein verhilft, ist das Lebenshilfe und nicht mit Maßstäben der Literaturkritik zu bewerten. Ein Freibrief für schlechtes Deutsch ist das jedoch nicht. Bei einem Satz wie „wenn Sie regelmäßig einen Kleidercheck durchführen, dann werden Sie dem Chaos schnell wieder Herr“ fragt man sich: Warum spart der Verlag am Lektorat?

Bei der Beurteilung von Kretschmers Kollektionen für die Berliner Modewochen scheiden sich die Geister. Während die Bildzeitung bei seiner letzten Kollektion „Altai“ von einer „traumhaft schönen Mode“ schwärmt, findet die „Frankfurter Allgemeine“ sie „grauslich“, spricht von „Chiffonschleppen-Kitschbomben“ und rät: „Die Abendkleider muss er dringend überdenken“. Seinem Erfolg tut das keinen Abbruch. Ästhetische Bildung bleibt ein Thema.

Modell Guido Maria Kretschmer. Foto © S.O. Beckmann

Modell Guido Maria Kretschmer. Foto © S.O. Beckmann

Kretschmer, Guido Maria: Anziehungskraft. Stil kennt keine Größe. Edel Books, 2013.
ISBN 978-3-8419-0239-9

Titelbild: Vintage-Haute-Couture im Stockhomer Auktionshaus Bukowskis. Foto © Rose Wagner