Eines Tages kam das Gespräch auf Kaiserzeit und Ersten Weltkrieg, und wir schauten wieder auf die Ahnengalerie über der Kommode. Die Bilderwand ist vertraut wie eine alte Tapete und wurde kaum noch bewusst wahrgenommen. Und auf einmal sahen wir die männlichen Vorfahren in ihren Matrosenanzügen und Uniformen mit anderen Augen.

Ahnengalerie. Foto © Privat

Ahnengalerie. Foto © Privat

Die Zwillinge Wilhelm und Fritz K. (Jahrgang 1896) wuchsen in einer Ruhrgebietsstadt auf, die sich während der Gründerzeit von einer beschaulichen Ackerbürgergemeinde zum Industriestandort gewandelt hatte. Ihr Vater, ein erfolgreicher, national gesinnter Jurist, verkörperte in seinem gesamten Habitus den typischen Vertreter des gehobenen wilhelminischen Bürgertums. Selbstverständlich trugen seine Söhne Matrosenanzüge.

Der Matrosenanzug als Weltanschauung

Diese Kindermode hat eine verzweigte Geschichte. In England kam bereits vor 1800 der Anzug „à la matelot“ (wie der Matrose) auf. Er entsprang dem Bürgergeist sportfreudiger Engländer, die bequeme Kleidung für ihre Kinder suchten und sie in der praktischen Seemannstracht fanden. Europaweit wollten sich selbstbewusste Bürger von der Aristokratie und deren aufwendigen und steifen Kostümen für den Nachwuchs absetzen. Ideen der Aufklärung befeuerten die Entwicklung eigener, kindgerechter Kleidung. Der Matrosenanzug mit dem halsfernen, oft abnehmbaren Kragen und langen bequemen Hosen, die den schwerarbeitenden Matrosen abgeschaut waren, ermöglichte Kindern Bewegungsfreiheit und förderte Ungezwungenheit. Doch mit zunehmendem restaurativem Geist verschwand er fast ein halbes Jahrhundert aus den Kinderzimmern.

Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in der englischen Hofgesellschaft eine neue Variante des Matrosenanzugs kreiert, die die Uniform der Royal Navy zum Vorbild hatte. Modische Neuerungen waren ein eckiger Kragen und drei weiße Streifen an Kragen und Manschette der Bluse, die an siegreiche Schlachten des Admirals Nelson gegen die Flotte Napoleons erinnern sollten. Um 1880 erschienen die ersten Matrosenkleider und –blusen für Mädchen, die damit der herkömmlichen unbequemen Frauenmode entfliehen konnten.

Über Verwandtschaftsbeziehungen des Adels gelangte die Matrosenmode ins Berliner Schloss. Weitverbreitete Postkarten der Kaiserkinder im Seemannslook trugen dazu bei, dass diese Mode auch im anpassungsbestrebten wilhelminischen Bürgertum populär wurde. Lange Zeit bestellte die deutsche Oberschicht die Matrosenkleidung in England. Das war chic, das war exklusiv, das war modern. England war die führende Seemacht, und die Tracht seiner Matrosen wurde nachgeahmt. Außerdem hatte das Land auch die längste schneidertechnische Tradition, und die Qualität seiner Tuche war unerreicht.

Die wilhelminische Flottenpolitik, die sich explizit gegen das „perfide Albion“ richtete, führte zu einer Wandlung der symbolischen Bedeutung des Matrosenanzugs. Jetzt wurde mit dem Kleidungsstück die Begeisterung für die kaiserliche Flotte ausgedrückt. Kiel wurde Kriegshafen, und dort entstand auch eine Textilfabrik, in der Matrosenkleidung für Jungen und Mädchen hergestellt wurde. Der „echte Kieler Matrosenanzug“ gedieh zum Wertzeichen bürgerlichen Nationalstolzes (Ingeborg Weber-Kellermann). Während der Regierungszeit Wilhelms II. trugen Kinder den Matrosenhabit zu jeder Gelegenheit und demonstrierten damit den Patriotismus ihrer Väter und Mütter.

 Mädchen im Matrosenkleid, ca. 1900. Foto © Privat


Mädchen im Matrosenkleid,
ca. 1900. Foto © Privat

Nicht nur die Kinder der national gesinnten Oberschicht trugen Matrosenkleidung. Wegen ihrer Zweckmäßigkeit fand sie auch im liberalen Bürgertum Verbreitung – unterstützt durch Reformpädagogen, die kindgerechte Kleidung propagierten –, und selbst klassenbewusste Arbeiter erlagen ihrer Zugkraft. Doch die Klassenunterschiede blieben bestehen. An der Qualität des Stoffs, des Schnitts und der Ausführung waren sie für jeden ablesbar.

Familienfoto, ca. 1900. Foto © Privat

Familienfoto, ca. 1900. Foto © Privat

Typisch für Matrosenanzüge sind die Farben Dunkelblau und Weiß. Je nach Jahreszeit dominiert die eine oder die andere Farbe. Saisonal unterschiedlich sind auch die Stoffe – Wolle, Leinen oder Baumwolle. Der Kragen läuft in der Regel nach hinten in einem Viereck aus, nach vorn in einer festangenähten Krawatte, die dem Halstuch der Matrosen nachempfunden ist. Die Länge der Hosen hing vom Alter der Knaben ab, der Schnitt von der jeweils aktuellen Mode sowie dem Distinktionsbedürfnis der Eltern.

Geschwister K., 1906. Foto © Privat

Geschwister K., 1906. Foto © Privat

Auf einer Fotografie aus dem Jahr 1906 – mit der älteren Schwester Anny, die auf anderen Aufnahmen ebenfalls von der Marine inspirierte Kleider trägt – stecken Wilhelm und Fritz in Matrosenanzügen mit dunkler Bluse und Knickerbockers. Der strenge Stehkragen des weißen Hemdeneinsatzes widerspricht dem Sinn des Matrosenkragens, der Bequemlichkeit bieten sollte. Echte Matrosenblusen hatten einen Schlitz zum leichten Hineinschlüpfen. Die Matrosenanzüge, in denen die Zwillinge sich für die Fotoaufnahme in Positur stellen, sind eine Mischung aus preußischer Steifheit und englischem Sportdress.

Ein Familienporträt aus dem Jahr 1907 zeigt die Knaben in besonders aufwendig verarbeiteten Matrosenkitteln mit doppeltem weißem Kragen, zweireihig geknöpft und reich mit Biesen verziert. Mit der ursprünglichen Kleidung der Seeleute  hatte auch diese Ausführung – bis auf den halsfernen Kragen des Hemdeneinsatzes – nur wenig gemein. Knöpfe waren auf See unpraktisch und Biesen völlig überflüssig. Wahrscheinlich waren die Anzüge, die Wilhelm und Fritz auf der Fotografie tragen, für besonders repräsentative Anlässe bestimmt. Bei Paraden trugen Matrosen ja auch dekorativere Uniformen als bei der täglichen Arbeit.

Familie K., 1908. Foto © Privat

Familie K., 1908. Foto © Privat

Der Matrosenanzug war die erste Mode, die ausdrücklich für Kinder geschaffen wurde, und auch die erste, die von den Kindern auf die Erwachsenen überging. Matrosenmode war weniger steif als die bis dahin übliche Kindermode, auch wenn es sich, gemessen an der heutigen Formlosigkeit von Jeans und T-Shirts, um relativ formale Kleidung handelt. Heutige Kinderkleidung ist ‒ wie einst ‒ der Erwachsenenmode nachempfunden.

Der Reiz der Uniform

Militärische Uniformen sollen Individualität unterdrücken und Selbstrespekt und geregeltes Verhalten fördern. Für ihre Ausstellung „Kleider machen Leute“ interviewte die Fotografin Herlinde Koelbl auch Soldaten. Der Generalinspekteur der deutschen Luftwaffe, Klaus-Peter Stieglitz, gab zu Protokoll: „In der Uniform sehe ich immer gleich gut, attraktiv, funktional und gestylt aus“. Andere Uniformträger äußerten sich ähnlich. Militärische Uniformen verleihen Prestige und Macht und betonen das Maskuline.

In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zeigte sich das noch deutlicher. Britische Forschungen belegen, dass sich zahlreiche Männer freiwillig zum Kriegsdienst meldeten, um die attraktive Uniform tragen zu dürfen. Der österreichische Schriftsteller Joseph Roth spottete zwar über den Glanz der Armee und räumte doch ein, dass es schwer sei, sich der Faszinationskraft der Uniform zu entziehen – auch deshalb, weil ihren Trägern „lüsterne Blicke“ folgten und sie einen Schlag bei den Frauen hätten. In dem Roman „Radetzkymarsch“ schlüpft der junge Leutnant Trotta mit der Uniform in eine Existenzform und Gefühlswelt, die ihn von seinem Zivilistenleben scheiden. Die von Herlinde Koelbl interviewten Soldaten berichteten, dass sich mit dem Anlegen des Waffenrocks auch ihre Körperhaltung und der Gang veränderten, und die Umwelt begegnete ihnen anders als in ziviler Kleidung.

Im deutschen Kaiserreich standen Werte und Normen des Militärs an der Spitze der Ansehensskala (Hans-Ulrich Wehler). „Der preußische Leutnant ging als junger Gott, der bürgerliche Reserveleutnant wenigstens als Halbgott durch die Welt“ (Friedrich Meinecke). Es war kein Wunder, dass junge Männer, die im Klima der Glorifizierung des Militärs aufwuchsen, mit Freude die Uniform überstreiften. Das Militär galt als „Schule der Männlichkeit“, die dort gepflegten virilen Tugenden wurden ins Zivilleben übernommen.

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Preußischer Leutnant, ca. 1900.
Foto © Privat

Wegen des Kriegsausbruchs legten die Brüder Wilhelm und Fritz im August 1914 vorzeitig ihr Abitur ab und meldeten sich nach der deutschen Mobilmachung als Kriegsfreiwillige. Sie dienten in unterschiedlichen Regimentern, was sich in den Uniformen, der Paspelierung am Kragen und den Schirmmützen mit den spezifischen Insignien widerspiegelt. Beim Heimaturlaub im August 1915 zeigen sich die Brüder in körperbetonten Ausgehuniformen. Wilhelm trägt einen taillierten doppelreihigen Uniformrock mit Breeches und hohen Reiterstiefeln. Fritz präsentiert sich in einer taillierten einreihigen Jacke und schmalen Hosen zu knöchelhohen Schuhen. Der Schnitt der Uniformen ist ohne schmückende Ablenkung und betont den individuellen Körper.

Brüder K., August 1915. Foto © Privat

Brüder K., August 1915. Foto © Privat

Als hätten sie einen Stock verschluckt stehen die jungen Offiziersanwärter in strammer Haltung mit den Händen an der Hosennaht im elterlichen Garten. Aus Abiturienten wurden durch militärischen Drill, Kriegserfahrung und Uniformen Männer. Haltung und Montur signalisieren Disziplin, Ordnung und Kampfgeist. Die Säbel mit Korb und Quaste (Portepee) sind angelegt. Sie symbolisieren Ritterlichkeit und heroischen Kampf, und obwohl sie reine Dekoration sind, verleihen sie ihren Trägern doch Bedeutung und reihen sie in eine lange und glorreiche militärische Tradition ein.

Kaum vorstellbar, dass Soldaten heute während des Heimaturlaubs für ein Foto strammstehen. Was mag in den Köpfen von Wilhelm und Fritz vorgegangen sein? Es ist anzunehmen, dass sie die Verhaltensmaximen des Militärs total verinnerlicht hatten. Auf uns Heutige, die wir so sehr an einen legeren Habitus gewöhnt sind und Begriffe wie „Patriotismus“ und „Vaterlandsliebe“ für peinlich pathetisch halten, wirkt die stramme Haltung der beiden fast lächerlich. Doch sie ist wahrhaftiger Ausdruck der geistigen Gesinnung ihrer Zeit.

Auf dem nächsten Bild präsentieren sich die Brüder nicht mehr ganz so zackig, aber immer noch in soldatisch korrekter Haltung. Die Spitzendecke auf dem Gartentisch – Inbegriff bürgerlicher Gemütlichkeit – bildet dazu einen spannungsreichen Kontrast. Wie wird den beiden nach der Fronterfahrung und dem Schlamm der Schützengräben diese Idylle vorgekommen sein?

Brüder K., August 1915. Foto © Privat

Brüder K., August 1915.
Foto © Privat

Beim Anblick der Brüder fragten wir uns, warum sie ihre Montur während ihres Urlaubs nicht ablegten. Wollten sie ihre Zugehörigkeit zur vaterländischen Sache auch visuell manifestieren? War es einfach selbstverständlich für einen preußischen Offiziersanwärter, seine militärische Haltung auch im zivilen Alltag beizubehalten? War die Uniform ihnen zur zweiten Haut geworden, wie dem Leutnant Trotta im „Radetzkymarsch“, dem mit dem Eintritt in die Armee seine zivile Identität fast völlig abhanden kam? Vielleicht bot ihnen die Uniform sogar Schutz?

Wilhelm K., 1915. Foto © Privat

Wilhelm K., 1915. Foto © Privat

Am Ersten Weltkrieg waren von 1914 bis 1918 insgesamt etwa 63 Millionen Soldaten beteiligt, von denen 9 Millionen starben; die Zahl der getöteten Zivilisten wird auf 6 Millionen geschätzt.

Fritz war keine 20 Jahre alt, als er am 19. März 1916 in einem Feldlazarett bei Verdun den Folgen einer Verwundung erlag. Sein Zwillingsbruder Wilhelm wurde Arzt. Im Zweiten Weltkrieg war er als Sanitätsoffizier in einem Lazarett eingesetzt. Seinen Kindern erschien er später als Inbegriff des Zivilisten, und seine Enkel votierten in einer völlig anderen Welt für Zivildienst statt Bundeswehr.

 

Literatur

Hollander, Anne (1997): Anzug und Eros. Berlin: DTV. Koelbl, Herlinde (2012): Kleider machen Leute. Ostfilder: Hatje Cantz. Roth, Joseph (1982): Radetzkymarsch. 2. Aufl. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Ugolini, Laura (2010): Consumers to Combatants? British Uniforms and Identities, 1914-1918. In: Fashion Theory, Jg. 14, H. 2, S. 159-182. Weber-Kellermann, Ingeborg (1985): Der Kinder neue Kleider. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Wehler, Hans-Ulrich (1995): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. III. 1849-1914. München: C.H. Beck.

 

Titelbild: Familienporträt, 1914. Foto © Privat
Ein besonderer Dank geht an Gert K.