Buchbesprechung

Besteht ein Zusammenhang zwischen dem Anzug und einem spezifischen Männerbild? Ja, behauptet Gesa C. Teichert in ihrem Buch „Mode. Macht. Männer“. Zwischen dem bürgerlichen Herrenanzug des 19. Jahrhunderts und der gesellschaftlichen Konstruktion von Männlichkeit sieht sie eine unaufhebbare Verbindung. Mit diesem Kleidungsstück verband sich eine bestimmte Vorstellung vom Mann: der Vernunft verpflichtet, den Sexualtrieb unter Kontrolle, tätig und diszipliniert. Der Anzug diente nicht nur zur Kennzeichnung des Geschlechts und der Klassenzugehörigkeit, sondern wirkte auch auf den Körper ein. Gesa C. Teichert spricht sogar von der „Fortifikation der Leiber“ durch den Anzug.

Die wichtigste Quelle für ihre Erkenntnisse ist die Kleidung selbst. In Modesammlungen untersuchte sie die alten Textilien, befühlte sie, wendete sie auf links und zog manche Teile sogar über. Eine erstaunliche Differenz zwischen der sichtbaren äußeren Eleganz des Herrenanzugs und unangenehmer Rauheit des Stoffes trat zutage.

Bürgerliche Kleidung um 1900.
Foto © Privat

Im 19. Jahrhundert wurden die Stoffschichten des Herrenanzugs gestärkt, abgefüttert, kartoniert und manchmal sogar verdrahtet. Die Kragen waren hoch, die Manschetten bedeckten den Handrücken zur Hälfte, und der Oberkörper verschwand fast völlig unter Weste und Jacke. Die Autorin beschreibt, wie nach und nach der reale Körper des Mannes in den Hintergrund trat und unter seiner Kleidung verschwand. Die Schneidertechnik bewirkte eine spezifische Silhouette. Wegen seiner starren Kleidung schritt der bürgerliche Mann mit durchgedrücktem Kreuz und hocherhobenen Hauptes durch die Welt.

Herrenanzug um 1900. Foto © Privat

Herrenanzug um 1900. Foto © Privat

Mit der steifen und oft kratzigen Kleidung wurde die männliche Sexualität zurückgedrängt. Die Entblößung bestimmter Körperpartien war mit Scham besetzt, es sollte so wenig nackte Haut wie möglich gezeigt werden. Aus dieser Zeit stammt der Jackett-Zwang, der das Zeigen des Oberhemdes tabuisierte, denn es lenkt den Blick auf Bauch und Brustkorb, Körperpartien, die der bürgerliche Mann bedeckt halten wollte. Wie verinnerlicht der Jackett-Zwang noch immer ist, zeigte sich im Juni 2012 beim Deutschlandbesuch des amerikanischen Präsidenten Obama, als er bei einer Rede unter freiem Himmel in sengender Sonne sein Sakko ablegte, wofür er zuvor die Zuhörer um Nachsicht bat. Dieser „Akt der textilen Befreiung“ (Neue Zürcher Zeitung) machte selbst im 21. Jahrhundert Schlagzeilen. Zu Obamas Gunsten sprach, dass er ein Unterhemd trug und unter dem Oberhemd nicht nackt war. Ein solcher öffentlicher Tabubruch eines Präsidenten wäre selbst im 21. Jahrhundert zu radikal gewesen.

Die Uniformierung des bürgerlichen Mannes im Herrenanzug ist ohne die Französische Revolution nicht denkbar. Sie hatte den Aufstieg des Bürgertums beschleunigt und die Macht des Adels gebrochen.

Danton-Monument in Paris. Foto © Rose Wagner

Danton-Monument in Paris.
Foto © Rose Wagner

Schluss war nun mit dem aufwendigen Putz des Mannes, Schluss mit weichen und sinnlichen Stoffen wie Samt und Seide für seine Jacken und Westen, Schluss mit Spitzenmanschetten, hohen Absätzen und hautengen Hosen, die die Waden nachzeichneten und das männliche Geschlecht betonten. Beim Kleidungsaufwand des Adels hatte es keinen grundlegenden Unterschied zwischen Männern und Frauen gegeben, beide schmückten sich gleichermaßen verschwenderisch. Mit den bürgerlichen Werten und Bekleidungsvorstellungen änderte sich das grundlegend. Der Mann entsagte dem Putz, überließ der Frau die Farben, die Opulenz und die Betonung des Körpers und hüllte sich fortan in dunkle Wollanzüge. Das Interesse an Mode wurde von nun an als typisch weiblich angesehen.

Den Gegentypen zum korrekt steifen Bürgersmann bildete der Dandy, der unbekümmert um die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse weiterhin in aufwendiger und körperbetonter Kleidung herumspazierte. Er galt als unnatürliche Abweichung, als „weibisch“.

Recht abrupt beendet die Autorin ihre interessanten Betrachtungen mit der Feststellung, dass der bürgerliche Mann des 19. Jahrhunderts einem starken gesellschaftlichen Erwartungsdruck unterworfen war, der die Entfaltung „moderner Männlichkeit“ blockiert habe. Der Anzug habe dabei eine tragende Rolle gespielt. An dieser Stelle hätte man sich einen Ausblick auf den modernen Herrenanzug gewünscht. Was hat sich seit dem 19. Jahrhundert modisch geändert und in welchem Zusammenhang steht es mit der Veränderung des Männerbildes? Leider fehlt dem Buch insgesamt das konstruktiv-kritische Lektorat, das für eine Straffung des Textes und Tilgung der Flüchtigkeitsfehler hätte sorgen können.

Heute ist der Herrenanzug weitgehend aus dem Straßenbild verschwunden, wenngleich er in bestimmten Berufen nach wie vor ein Muss ist.

Ungewöhnliche Anzugkonzentration, München 2014.
Foto © Rose Wagner

Und bei besonderen Anlässen wie Abiturfeier, Jugendweihe, Beerdigung oder Hochzeit schlägt weiterhin seine Stunde. Doch im Alltag haben ihn Jeans als die zivile Standarduniform verdrängt.

Anzug bei russischer Hochzeit in Rom, 2013. Foto © Rose Wagner

Anzug bei russischer Hochzeit in Rom, 2013.
Foto © Rose Wagner

In den Herrenmodenschauen ist der Anzug nach wie vor gegenwärtig, allerdings ‒ anders als im 19. Jahrhundert ‒ körpernah geschnitten und aus Stoffen mit hohem Tragekomfort. Seit Hedi Slimane bei Dior Homme die Anzughose radikal verengte, ist die Silhouette schmal. Eine neue Anzug-Ästhetik durchweht die Popkultur. Die amerikanische Fernsehserie „Mad Men“ mit den smarten Anzugsträgern einer New Yorker Werbeagentur und Daniel Craigs lässige Maßanfertigungen in den James-Bond-Filmen befördern den Imagewandel des klassischen Herrenanzugs. Justin Timberlake, der neuerdings Anzüge mit Weste trägt, gilt gerade deshalb als „Inkarnation von Cool“ (Die Welt). Und Fußballtrainer Pep Guardiola trägt selbst im Stadion schmal geschnittene Anzüge von Prada und Armani und wird als Stilikone gefeiert. Der Herrenanzug hat endgültig sein steifes Erbe abgelegt.

Anders als im 19. Jahrhundert existiert heute kein normsetzendes Männerbild mehr, das den Kleidungsstil diktiert. Bei jungen Männern dominiert noch der Streetstyle. Doch es mehren sich die Anzeichen, dass sich daneben andere Kleidungsstile etablieren. Der Hipster mit seiner Manierlichkeit ist nicht der Einzige, der Jeans mit einem gut geschnittenen Sakko kombiniert. Und immer häufiger sieht man junge Männer, die experimentierfreudig an die Tradition der Dandys anknüpfen.

20140512 Zwei in Paris vor Colette Nom Matrosenanzüge 084

Moderne Dandys, Paris 2014.  Foto © Rose Wagner

Moderne Dandys, Paris 2014. Foto © Rose Wagner 

Vielleicht schließt die Herrenmode in mancher Hinsicht wieder an vorrevolutionäre Zeiten an?

 

Teichert, Gesa C.: Mode. Macht. Männer. Kulturwissenschaftliche Überlegungen zur bürgerlichen Herrenmode des 19. Jahrhunderts. Münster, LIT Verlag, 2013.

 

Titelfoto: Herrenanzüge von Sissi Goetze, Herbst/Winter 2014/2015. Foto © S.O. Beckmann