An einem schönen Nachmittag im Juni 2012 strömten Hunderte von New Yorkerinnen ins „Metropolitan Museum of Art“ zu einer Podiumsdiskussion mit Iris Apfel (geb. 1921) und Tavi Gevinson (geb. 1996). Beide sind bekannt für ihren eigenwilligen Stil. Das Thema des Gesprächs lautete: „Guter Geschmack/Schlechter Geschmack: Persönlicher Stil heute“. Judith Thurman vom „New Yorker“ moderierte die Diskussion.Eine voluminöses graues Etwas über die Schulter geworfen, eine Mischung zwischen Federboa und Pelzstola, betritt Iris Apfel die Bühne, aufrecht und mit Gehhilfe. Mit ihren schwarzgerahmten untertassengroßen Brillengläsern strahlt sie eine exzentrische Energie aus. Wegen ihrer maximalistischen Aufmachung gilt sie als „Popstar der Mode“. In den vierziger Jahren trug sie als erste Frau zum Vergnügen eine Jeans, zu einer Zeit als diese Arbeitshosen noch ausschließlich Männern vorbehalten waren. Jahrzehntelang sammelte die Textilunternehmerin Haute-Couture-Mode und Accessoires aus aller Welt. Sie mischt sie in kühner Manier, nicht bekümmert durch Konventionen über Farb-, Muster- und Materialzusammenstellungen und gesellschaftliche Erwartungen an altersgemäße Kleidung. Ihr beträchtlicher Fundus füllt eine Lagerhalle.

Tavi Gevinson und Iris Apfel bei einer Veranstaltung im Metropolitan Museum of Art in New York, Juni 2012. Foto © Rose Wagner

Tavi Gevinson und Iris Apfel bei einer Veranstaltung im Metropolitan Museum of Art in New York, Juni 2012. Foto © Rose Wagner

Tavi Gevinson machte im September 2009 als Dreizehnjährige weltweit Schlagzeilen mit ihrem Blog Thestylerookie, auf dem sie sich in eigenen und eigenwilligen Kreationen präsentierte. Diese selbstverliebte modische Überspanntheit brachte dem Kind bei Shows der New York Fashion Week einen Platz in der ersten Reihe ein. Mit Tavi Gevinson erschien jemand in der etablierten Modejournalistenszene, die modellhaft für das neue Medium Internet stand. Berufliche Erfahrung und Expertenwissen schienen an Bedeutung zu verlieren. Schneller als die traditionelle Modepresse stellten sich die Designer auf die neue Entwicklung ein. Sie erhoffen sich von Bloggern wie Tavi Gevinson einen unverfälschten und direkten Kanal zu potentiellen Kundinnen. Dafür lassen manche Labels den Bloggern ihre Produkte zukommen.

Heute betreibt Tavi Gevinson neben ihrem Blog die Online-Plattform RookieMag.com, auf der sie und Gleichaltrige über Mode, Sex, Liebe und Schule schreiben. Die Süddeutsche Zeitung charakterisiert „Rookie“ als ein „feministisches Onlinemagazin für Teeniemädchen“. In Exzentrik kann sich die Sechzehnjährige durchaus mit der Neunzigjährigen messen. Sie wirkt oft, als habe sie sich für eine Halloween Party verkleidet. Für ihren Auftritt im Metropolitan Museum wählt sie allerdings ein gefälligeres Outfit, einen kurzen weiten Rock, der mit surrealistischen Lippen bedruckt ist. Das Modehaus Prada ließ ihn ihr zukommen.

Unabhängigkeit von der Meinung anderer ist für beide Diskutantinnen die Grundvoraussetzung für die Entwicklung eines eigenen Stils. Regeln, wie „man“ sich zu kleiden habe, akzeptieren sie nicht. Iris Apfel meint: „Man kann nicht einem Modetrend folgen und gleichzeitig einen eigenen Stil haben. Wer nur den aktuellen Trends folgt, ist nichts anderes als eine Modepuppe“. Um zu einem eigenen Stil zu finden, sei zudem Selbsterkenntnis nötig. „Man muss herausfinden, wer man wirklich ist, wie auf der Couch beim Psychiater, erst dann weiß man, was zu einem passt“. Sowohl Iris Apfel als auch Tavi Gevinson vertreten die Auffassung, dass es möglich ist, sich mit Kleidung Fantasien und die verschiedenen Seiten des Ich auszuleben.

Für die Neunzigjährige ist das alltägliche Sich-Anziehen ein Spiel. Ihr Zugang zur Mode sei nicht intellektuell. Für die Sechzehnjährige ist bei der Wahl ihres Outfits ihre Stimmung entscheidend. Ein langweiliger Tag in der Schule sei in einem schrägen Kostüm leichter zu ertragen.

Die Moderatorin bringt das Gespräch auf den „hässlichen Chic“ („ugly chic“), der bei Designern wie Miuccia Prada und Rei Kawakubo dominiere. Iris Apfel kommentiert das mit den Worten: „Es ist ja schön, intellektuell zu sein, aber Kleidung sollte sitzen und nicht hässlich machen. Ich sehe keinen Sinn darin, wie ein Freak auszusehen. Hässlich sein kann ich ganz von alleine, dafür muss ich nicht noch Geld ausgeben“. Tavi Gevinson schließt sich der Verdammung experimenteller Mode nicht an, sie wolle gar nicht immer „schön“ aussehen. Aber auch an gefälliger und konventioneller Kleidung mag sie nichts Negatives sehen. Jede Frau solle das tragen, was für sie in einem gegebenen Moment das Richtige sei.

Als das Gespräch auf das Thema Feminismus kommt, zeigt sich zwischen beiden ein fundamentaler Unterschied. Die alte Dame hält Feminismus für „Quatsch“. Das junge Mädchen dagegen interpretiert Feminismus als die Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.

Die Sechzehnjährige beobachtet bei fast jeder Frau ab einer bestimmten Lebensphase eine Furcht vor dem Älterwerden. Die Neunzigjährige meint jedoch Anzeichen für „eine verdeckte Revolution“ wahrnehmen zu können, die auf eine Abkehr von der Verabsolutierung von Jugend hindeute. Ein Indiz dafür seien Blogs wie Advanced Style, in denen stilsichere ältere Frauen porträtiert werden. Neuerdings rückten sogar alte Frauen in den Fokus der Schönheitsindustrie. In modischer Hinsicht sei allerdings noch vieles unbefriedigend. Wünschenswert wären mehr Kleider mit langen Ärmeln, statt der ärmellosen Modelle. Es gebe großen Bedarf, und wer den befriedige, könne viel Geld verdienen. Da spricht aus Iris Apfel die ehemalige Textilunternehmerin.

Text und Foto © Rose Wagner
Gekürzte Fassung der Erstveröffentlichung vom 16.07.2012 auf Netzwerk Mode Textil