Filmkritik

Die britische Designerin Jacqueline Durran gewann für „Anna Karenina“ den Oscar in der Kategorie „Beste Kostüme“. Es gibt bereits mehr als ein Dutzend Verfilmungen von Leo Tolstois realistischem Roman. In seiner Version geht der Regisseur Joe Wright kühn mit der literarischen Vorlage um und entscheidet sich für einen dezidiert anti-realistischen Zugang. Wright vertritt – in Anlehnung an Wsewolod Meyerhold (1874 – 1940) – die Auffassung, dass das Wesen der Dinge durch radikale Stilisierung am deutlichsten wird. Als Kulisse für die Filmszenen, die in St. Petersburg und Moskau spielen, wählte er ein ausgedientes Theater, und seine Protagonisten bewegen sich – nicht selten tänzerisch –  in den Requisiten, als spielte ihr Leben sich auf einer Bühne ab. Zu einem solchen Setting müssen die Kostüme passen. Der Regisseur wollte keinen Kostümfilm mit historisch genauer Kleidung, sondern klare Konturen und die Vermeidung überbordender Details und beauftragte deshalb Jacqueline Durran, die Pariser Couture der 1950er Jahre zu studieren. Durch ihre Silhouette und feminine Eleganz kommt sie dem nahe, was Wright vorschwebte. Im Film tragen nur Nebenfiguren Kostüme, die der landläufigen Vorstellung von Kleidung im Zarenreich um 1870 entspricht.

Die Besonderheit von Durrans Kostümdesign liegt in der Mischung von glaubwürdig erscheinender historischer Kleidung mit Pariser Couture. Die stereotypische Vorstellung von russischer Mode wird nicht bedient. Man sieht wenig Pelz – wenn, dann meist nur als Besatz –, keinen schweren Samt, keine Rüschen, aufwendige Stickereien, Pelzstiefel und Kosakenmützen, stattdessen klare Konturen und wenig Folklore. Die New York Times bringt das auf den Nenner: „Balenciaga statt Bolschoi“. Die Entscheidung für diese Formensprache beeinflusst die Rezeption des Films. Die Mode wirkt vertraut, man versteht sie.
Die Kostüme eines Films helfen dem Schauspieler, in seine Rolle zu schlüpfen und unterstreichen die Glaubwürdigkeit seiner Posen und Gesten. Sie sind entscheidend für seine Identifikation mit der Rolle. Mit Kostümen lassen sich Geschichten erzählen und in subtiler Weise Gefühle und Seelenzustände kundtun. In dieser „Anna Karenina“ wird unterdrückte Leidenschaft in Kleidung sichtbar.

Wohl kein anderes Ballkleid wird in der Weltliteratur so detailliert beschrieben wie das schwarze, das Anna auf dem Ball in Moskau trägt, der einen Wendepunkt in ihrem Leben markiert. Die spektakuläre Robe bildet den Rahmen für ihre Schönheit und Vitalität und hebt sie von allen anderen Frauen ab. Auch in der Verfilmung ist dieses Ballkleid glamourös und schwarz.

Wronski und Anna auf dem Ball. Foto © Focus Features

Wronski und Anna auf dem Ball. Foto © Focus Features

Das Oberteil ist inspiriert von der Couture Balenciagas und Diors und scheint ein wenig aus dem Gleichgewicht geraten zu sein – ein Hinweis auf Annas zunehmende Gefühlsverwirrung. Der weite Taftrock mit der verlängerten Turnüre und dem Tüllüberzug entspricht der Linienführung der russischen Mode um 1870.

Diamantcollier von Chanel und leicht verrutschtes Oberteil. Foto © Focus Features

Diamantcollier von Chanel und leicht verrutschtes Oberteil. Foto © Focus Features

Die Darstellerin der Anna – Keira Knightley – hat dazu ein Diamantcollier umgelegt, das das Haus Chanel zur Verfügung stellte. Bei den Dreharbeiten soll echter Schmuck im Wert von 2 Millionen Dollar getragen worden sein. Durch die Juwelen wird Annas Stellung als reiche Frau der höchsten Gesellschaftsschicht unterstrichen. Die Echtheit des Schmucks erleichtert der Darstellerin die Identifikation mit der Rolle. Annas Garderobe ist vorwiegend in Lila, Schwarz und Scharlachrot gehalten, Farben einer erwachsenen, selbstbewussten und privilegierten Frau.

Die liebreizende Kitty (Alicia Vikander) bildet auf dem Ball den visuellen Gegenpart zu Anna. Kittys Ballkleid gleicht einem viktorianischen Mädchenkleid: weiß, Rosette am Ausschnitt, schmaler Satingürtel in Blassrosa, glockenförmiger Schnitt. Sie wirkt wie eine Debütantin auf ihrem ersten Ball. Ihr Kleid ist kürzer als das von Anna und betont dadurch das Jungmädchenhafte.

Zunächst trägt Kitty ausschließlich die Kinderfarben Hellblau, Rosa und Weiß. Nach ihrer charakterlichen Reifung und der Heirat mit Lewin wird ihre Kleidung komplexer und eleganter und weist Champagner- und Beigetöne auf, die ihrem ruhigen, glücklichen Leben gemäß sind.

Auf dem Höhepunkt der Gerüchte über ihre Affäre mit Wronski erscheint Anna auf einem Fest in einem Abendkleid in sinnlichem und dramatischem Scharlachrot, komplettiert von einem üppigen Perlencollier. Die anderen Damen gehen dazu mit ihren in hellen, leidenschaftslosen Farben gehaltenen Roben optisch auf Distanz.

Wronski (Aaron Taylor-Johnson) erscheint als einziger Mann auf dem großen Ball in einer weißen Phantasieuniform, die ihn schon rein optisch von den anderen abhebt und mit ihrem perfekten Sitz seine Virilität und elegante Weltläufigkeit unterstreicht. Seine Gewandung – in der Farbpalette von Weiß, Grau und Hellblau – ist russischen Uniformen nachempfunden, ohne allerdings auf einen bestimmten Truppenteil hinzuweisen. Der elegante Schnitt seiner Militärkleidung betont die vorteilhaften Proportionen seiner Figur.

Die schlichtesten und unspektakulärsten Kostüme trägt – der kaum wiederzuerkennende – Jude Law, der den hohen Ministerialbeamten Karenin spielt. Die strengen Linien seiner Diensttunika und die vorherrschende graue Farbe betonen seine steife, zeremoniöse Persönlichkeit. Die Kraft des Kostüms liegt vor allem in der roten Schärpe, die den ganzen Mann umspannt und als markantes Kennzeichen seiner hohen Stellung und gesellschaftlichen Bedeutung nach außen und nach innen wirkt.

Karenin in Dienstkleidung. Foto © Focus Features

Karenin in Dienstkleidung.
Foto © Focus Features

Die Kostüme sind ein visueller Genuss. Allein ihretwegen ist der Film sehenswert. Wer den realistischen Tolstoi sucht und auf Historismus bei Kostümen setzt, wird enttäuscht werden.

Filmtitel:  Anna Karenina
Produktionsjahr:  2012
Regie: Joe Wright
Kostümdesign: Jacqueline Durran
Verleih: Focus Features/Universal

Text © Rose Wagner
 Fotos © Focus Features/Universal
Titelbild:  Filmplakat am Kino „Schauburg“ in Northeim
Erstveröffentlichung am 17.04.2013 in Netzwerk Mode Textil