Shelter Flagship Boutique
Coal Drops Yard
London, N1C 4AB
Unit EV8, 1st Floor
Die Vorzeige-Boutique der Hilfsorganisation Shelter im trendigen Londoner Einkaufsviertel Coal Drops Yard ist kein üblicher Wohlfahrts-Laden, sondern ein cooler Concept Store für Secondhand und Vintage. Im Vordergrund steht jedoch eine sozialpolitische Mission: Kampf gegen Obdachlosigkeit. Sämtliche Einnahmen dieser Boutique fließen in die Finanzierung von Lobbyarbeit und Kampagnen sowie in konkrete Hilfen für Menschen, denen der Verlust ihrer Wohnung droht. Shoppen bei Shelter dient einer guten Sache und liefert darüber hinaus einen Beitrag zu nachhaltiger Kreislaufwirtschaft.

Blick in den Laden.
Die Hilfsorganisation
Betrieben wird die Boutique von der 1966 gegründeten Hilfsorganisation Shelter. „We exist to defend the right to a safe home. Because home is everything“, heißt es in der Grundsatzerklärung. Mit dem Thema Wohnen wird eine zentrale soziale Frage der Gegenwart angesprochen. Sie spiegelt sich auch im Logo, dem primären visuellen Erkennungszeichen der Organisation, wider. Das Wort „shelter“ (= Schutz, Obdach) wird von einem roten Winkel überwölbt, der ein schützendes Dach symbolisiert.

Shelter-Logo über dem Eingang.
Shelter lässt sich bei Strategieentwicklung, Marketing und PR von Experten beraten und agiert entsprechend professionell. Die rund 80 Secondhand-Läden der Organisation – darunter ein Dutzend Concept Stores mit kuratiertem Sortiment, bei Shelter Boutiquen genannt – sind ein wichtiger Baustein in einem vielschichtigen Gesamtkonzept. Der durchgestylte Auftritt, die starke Präsenz in sozialen Medien und die Concept Stores zielen insbesondere auf die sogenannten Gen Z und Gen Alpha, also Generationen, die nach 1995 beziehungsweise seit 2010 geboren wurden. Die Annahme lautet, dass diese Generationen für die Anliegen von Shelter besonders ansprechbar sind.
In vielen Haushalten finden sich Dinge – zu denken ist an Kleidung und Accessoires –, die nicht oder nicht mehr in Gebrauch sind. Darauf hat Shelter ein Auge geworfen: „Every donation raises money for our vital work — the better the quality, the more we can raise.“ In den Shelter-Boutiquen werden alle Secondhand-Artikel zu einem Bruchteil des Originalpreises abgegeben, je höher er war, desto besser für die Hilfsorganisation und die Erfüllung ihrer Mission.

Accessoires im Shelter Store.
Shelter will nicht nur Spender und Kunden gewinnen, sondern zudem Ehrenamtliche für Sortierung und Verkauf der Sachspenden, aber auch für Aufgaben wie Web-Design, Fundraising und Rechtsberatung. Wie der Geschäftsführer des Flagship Store mir bei meinem Besuch sagte, setzt sich bei Shelter das Personal auf fast allen Ebenen und Qualifikationsfeldern aus Festangestellten und Ehrenamtlern zusammen.

Blick in den Laden, Laufschrift mit Aufruf zu ehrenamtlicher Arbeit.
Bekanntlich hängt die Attraktivität einer Shopping-Meile von der Vielfalt und dem Gegenwartsbezug des Angebots ab. Die rosigen Zeiten des Textileinzelhandels sind vorbei – nicht nur im Vereinigten Königsreich. Der Secondhand- und Vintage-Handel befindet sich dagegen im Aufwind, sowohl der kommerzielle als auch der karitative. Nach eigenen Angaben sind die Shelter-Stores wirtschaftlich erfolgreich. Für deren Gestaltung zieht Shelter die renommierte Agentur HemingwayDesign heran, die gleichermaßen über Erfahrung in der Ladengestaltung wie in der Stadtentwicklung verfügt.
Die Vorzeige-Boutique
Die Boutique in Coal Drops Yard sollte ein Fixpunkt („anchor tenant“) des Areals werden. Auf der Shelter-Webseite wird bereits Erfolg gemeldet: „[O]ur new flagship boutique store offers a shopping experience like no other“. Tatsächlich verbindet der Verkaufsraum das zeitgeistig Ästhetische mit dem Funktionalen. Er ist hell, übersichtlich und durchdacht gestaltet, schließlich handelt sich es um eine Maßanfertigung. Das Besondere an dieser Boutique ist jedoch die ostentative politische Einrahmung. „The fight for home starts here“, verkündet ein Plakat an der Stirnseite des Verkaufsraumes.

Blick auf ein Polit-Poster an der Stirnseite der Boutique.
An den Längsseiten laufen Neon-Schriftbänder in Endlosschleife mit Meldungen wie: „1.3 million households on social housing waiting lists“. Die Forderungen und Ziele der Hilfsorganisation ziehen in Leuchtschrift vorbei: Verbessertes Mieterrecht, Mietendeckel, mehr Sozialwohnungen. Inmitten des Warenangebots stehen Aufsteller mit politischen Botschaften und Berichten persönlich Betroffener, denen geholfen werden konnte.

Neon-Schriftbänder, Warenangebot und Betroffenen-Bericht.

Politische Schaufensterdekoration.
Im Wort „Boutique“ schwingt mit, dass es sich nicht um ein Geschäft für Billigmode handelt, sondern um etwas Exklusiveres. In der Shelter-Boutique erinnert nichts an trostlose Wohlfahrts-Secondhand-Läden mit Wühltischen und übervollen Kleiderstangen, die an Altkleidersammlungen denken lassen. Bei Shelter gibt es nichts Abgetragenes, alles ist gut erhalten und modisch. Die Bandbreite reicht von Mainstream-Marken, Streetwear großer Sportartikel-Hersteller, hochpreisigen Labels bis zu Designer-Vintage, der gehobenen Form von Secondhand. Dazu kommen Accessoires jeder Art, sogar hochwertiger Schmuck, eine Selektion von Büchern und Vinyl-Schallplatten (auch sie gelten mittlerweile als Vintage), Dekorationsartikel und diverse originelle Kleinobjekte.

Kiste mit Schallplatten.
Bis auf kleine Dekorations-Inseln, in denen es gemischt zugeht, wird die klassische Trennung in Damen- und Herrenmode beibehalten. Die Teile auf den Kleiderstangen sind ausschließlich nach Größe, nicht nach Farbe und Typ sortiert. Die Wahrscheinlichkeit, etwas ganz Bestimmtes zu finden, ist gering. Der Reiz besteht im Stöbern und der Entdeckung von Unerwartetem.

Blick in die Boutique.
Am Tag meines Besuches war die angebotene Damenmode überwiegend von Zara, Other Stories, Cos und Uniqlo, dazwischen fielen einzelne Stücke hochwertiger Labels wie Reiss, Moncler und Ralph Lauren ins Auge, auch ein seidenes Vintage-Wickelkleid von Diane von Furstenberg (£ 99) und ein Jeansrock von Versace (£ 19,99).

Wickelkleid von Diane von Furstenberg.

Jeansrock von Versace.
Bei der Männermode bestimmten britische Labels wie All Saints und Charles Thyrwitt sowie amerikanische Workwear-Marken wie Carhartt das Bild, hinzu kamen ein Seidenshirt von Zegna (£ 59,99) und mehrere Jackets von Ralph Lauren. Bei den Schuhen reichte die Spannbreite von Nike- und Adidas- Sneakers bis zu leistengeformten Lederschuhen.

Herren-Seidenshirt von Zegna und Damen-Baumwoll-Top von Zara.

Feines Schuhwerk.
Während meines gut einstündigen Aufenthalts schaute eine Handvoll Besucherinnen herein, sichtete das Angebot und kaufte nichts. Dass überhaupt Kunden auftauchten, war erfreulich, liegt der Laden doch in einer wenig frequentierten Passage und abgeschieden vom übrigen Verkaufsgeschehen. Ich hatte die Boutique gezielt aufgesucht, bei einem planlosen Einkaufsbummel hätte ich sie vielleicht gar nicht wahrgenommen.
Die Lage und das Umfeld
Im viktorianischen Zeitalter schlug in Coal Drops Yard (= Kohleumschlagplatz) das industrielle Herz der Hauptstadt. An einem Kanal und nahe dem Eisenbahnknotenpunkt Kings’s Cross / St. Pancras gelegen, war das riesige Gebiet ideal für den Umschlag von Kohle und Getreide, die von hieraus in alle Teile des Landes geliefert wurden. Nach fundamentalen Veränderungen im Gütertransportsystem setzte eine Abwärtsspirale ein. Die Gegend verfiel. In einem langwierigen Prozess erfolgte seit den späten 1990er-Jahren eine aufwendige und kostspielige Revitalisierung (£ 3 Mrd.). Alles, was in der britischen Stadtplaner- und Architektenszene Rang und Namen hat, beteiligte sich. In einstigen Gasspeichern befinden sich heute Luxuswohnungen, in neuen Wohnanlagen soll es auch einen Anteil an „affordable housing“ geben. Dieser Aspekt dürfte für Shelter von besonderer Bedeutung sein, besteht doch in der Lösung der Wohnungsfrage der Sinn und Zweck dieser Hilfsorganisation.
Wegen der herausragenden Bedeutung von Coal Drops Yards für London wurde ein neuer Postcode vergeben: N1C.

Blick auf die “kissing roofs” des Architekten Thomas Heatherwick. Sie verbinden zwei langgestreckte, ehemalige Güterhallen miteinander, in denen heute Einzelhandelsgeschäfte untergebracht sind.
Google, Deep Mind (KI), Musikunternehmen, The Guardian, internationale Design-Studios und Lightroom − ein Museum für digitale immersive Ausstellungen − haben sich in Coal Drops Yard niedergelassen. Die Modeschule Central Saint Martins (CSM), die sich glänzender Absolventennamen wie John Galliano, Stella McCartney und Steve McQueen rühmt, residiert im Granary Building, einem ehemaligen Getreidespeicher aus dem Jahr 1852, und verleiht dem Standort ein spezielles Kolorit.

Granary Square, im Hintergrund Central Saint Martins (CSM).

CSM-Studenten.
Coal Drops Yard ist vorrangig ein „shopping and dining hotspot“, wie in der offiziellen Selbstbeschreibung zu lesen ist. Neben Restaurants, mobilen Kaffee-Bars und veganen Imbiss-Buden haben sich zahlreiche Modegeschäfte angesiedelt. Aus Sicht von Shelter ist Coal Drops Yard „one of the most iconic and imaginative spaces in London“. Weil man sich ein inspirierendes Umfeld und optimale Verkaufsbedingungen versprach, wurde hier 2019 die Flagship Boutique der Hilfsorganisation eröffnet.

Blick auf die Ladenfront von Paul Smith.

Gasse mit mobilen Imbiss-Ständen.
Doch ist das Umfeld wirklich so sprühend und anregend, wie erhofft? In zwei langgestreckten, ehemaligen Güterhallen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts haben sich ubiquitäre Mittelklasse-Brands wie Uniqlo, Cos, APC, American Vintage und Bash eingerichtet. Weltweit sind sie in jeder besseren Einkaufslage zu finden. Immerhin ist mit Paul Smith ein einheimisches und unabhängiges Star-Label vertreten. Anders als die Werbebroschüren glauben machen wollen, ist das Angebotsspektrum in Coal Drops Yard (noch) nicht über die Maßen aufregend und ungewöhnlich. Die Einzigartigkeit besteht vor allem in der imponierenden Gesamt-Szenerie mit den Relikten eines viktorianischen Industriestandortes.

Übersichtsplan King`s Cross / Coal Drops Yard der Künstlerin Aysha Tengiz.
Ich habe mich einen Tag lang in Coal Drops Yard aufgehalten und fand, dass dem Komplex etwas Gewolltes, Durch-Kuratiertes anhaftet, dass die schönen, großen Pläne, die am Reißbrett entstanden, noch auf ihre Verlebendigung warten. Instagram-Motive sind allerdings bereits reichlich vorhanden.
In den von mir aufgesuchten Modegeschäften war das Kundenaufkommen verhalten und der Geschäftsgang schleppend, mit einer Ausnahme: Beyond Retro. Die internationale, kommerzielle Secondhand- und Vintage-Kette kauft europaweit Ware von karitativen Secondhand-Läden auf und vermarktet sie unter eigenem Namen weiter. Beide Seiten profitieren, Beyond Retro vermutlich am meisten. Der Verkaufsraum ist mindestens dreimal so groß wie der von Shelter, liegt ebenerdig und in optimaler Lage. Der Laden brummt.

Blick in den Secondhand-Laden Beyond Retro.
Die Shelter-Boutique dagegen liegt, wie bereits erwähnt, in einer abgelegenen, dunklen Passage.

Passage der Shelter-Boutique.
Es ist auch nicht erkennbar, dass produktive Kooperationsbeziehungen zu anderen Geschäften bestehen, die der räumlichen Isolation der Shelter Flagship Boutique etwas entgegensetzen könnten. Es erstaunt zudem, dass die Uniqlo-Filiale in Coal Drops Yard projektbezogen mit der CSM-Modeschule zusammenarbeitet, während bei Shelter lediglich die Rede davon ist, dass CSM-Studenten mit einem 20-prozentigen Einkaufsrabatt rechnen können, wenn sie zuvor etwas spenden.

Uniqlo-Jeansjacke mit Coal-Drops-Yard-Motiv, entworfen von CSM-Studenten.
Dass sich die hohen Erwartungen, die Shelter mit Coal Drops Yard verbindet, erfüllen können, bezweifle ich. Vielleicht gehören zu den entscheidenden Kriterien für den Erfolg einer Secondhand-Boutique weniger die gutgemeinte soziale Mission, sondern an erster Stelle Sichtbarkeit und Zugänglichkeit?
Die weitere Entwicklung in Coal Drops Yard muss man abwarten. Hoffentlich hält die Shelter Flagship Boutique solange durch.
Fotos: © Rose Wagner.