Buchbesprechung:
Rae, Vixy: The Secret Life of Tartan. How a Cloth Shaped a Nation
Edinburgh, Black & White Publishing, 2019. 304 S., zahlr. meist farb. Abb. ISBN: 978-178530-259-6
Tartan ist ein Symbol für Schottland. „It is the fabric of a nation“, heißt es bei Vixy Rae. Er ist von einem Gespinst aus Mythen, Idealisierungen und konkurrierenden Geschichtsdeutungen umhüllt. Mit ihrem Buch will Rae dieses verschlungene Knäuel entwirren.
Sie zeichnet nach, wie sich der markant karierte Wollstoff vom Outfit aufständischer Rebellen zu der schottischen Nationaltracht entwickelte, die heute weltweit als Ausdruck schottischen Selbstbewusstseins interpretiert wird. In einer Tour d’Horizon verfolgt sie den Niederschlag des Schottenkaros in Malerei, Literatur, Populärkultur und Mode. Sie interviewt Akteure aus Industrie und Kultur, porträtiert Nachwuchs-Designer und gibt einen Einblick in die bunt zusammengesetzte Szene, die sich um den Tartan schart. Jedes der neunzehn Kapitel des Buches trägt als Untertitel den Namen eines Tartanmusters. Die Begriffe Tartan, Kilt, Plaid und Nationaltracht werden synonym verwendet.
Raes Hauptthesen lauten: Im Tartan spiegelt sich die Geschichte Schottlands wider. Er ist identitätsstiftend und schweißt die Nation zusammen. Schottentum ohne Tartan ist undenkbar.
Vixy Rae hatte sich in Schottland als Designerin von Streetwear einen Namen gemacht, bevor sie im Jahr 2015 Mitinhaberin und Kreativ-Direktorin der ältesten Maßschneiderei Schottlands wurde. Die Geschichte von Stewart Christie in Edinburgh reicht bis ins Jahr 1720 zurück. Das Unternehmen ist auf die Herstellung formaler schottischer Herrenbekleidung aus hochwertigem Tartan spezialisiert und beliefert Kunden aus aller Welt mit Kilts und Trews (Karohosen).
Seit Raes Einstieg ist bei Stewart Christie auch Damenmode aus Tartan im Angebot.
Für Rae und die von ihr Interviewten ergibt sich die Wirkung von Tartan aus seiner Geschichte und den mit ihr verbundenen Emotionen. Der Präsident der Scottish Tartans Authority – John McLeish – stellt fest: „Without the feelings that tartan evokes, the fabric itself lacks provenance and gravitas – there would be no tartan industry without these feelings“. Daniel Fearn, Mitinhaber von Stewart Christie, hebt hervor: Tartan ist „a great piece of PR for the country“.
Kilt und Plaid aus strapazierfähigem Tartan waren seit dem späten 16. Jahrhundert die traditionelle Kleidung der Gälischsprechenden Hochlandschotten. Sie führten ein rauhes Leben und galten anderswo – in Niederschottland nicht weniger als in England – als wild und unzivilisiert. Sie legten sich bunte Tücher um, fältelten sie und hielten die Stofffülle – bis zu acht Meter – mit einem Gürtel fest (belted plaid). Der untere Teil glich dem heutigen knielangen Kilt, der obere Teil konnte beliebig arrangiert werden und notfalls als wärmende Decke dienen.
Der moderne little kilt mit reduzierter Stoffmenge und fixierten Falten ist die Erfindung des englischen Quakers Thomas Rawlinson, der Mitte des 18. Jahrhunderts im Hochland eine Eisengießerei betrieb. Der voluminöse belted plaid war bei der Arbeit unpraktisch, deshalb bestand Rawlinson auf Reduzierung der Stofffülle und Befestigung der Falten. Seitdem ist der Grundschnitt des Kilt im wesentlichen unverändert.
Bis heute ist der Kilt ein maskulines Kleidungsstück zu dem unabdingbar Sporran (über dem Rock getragene Tasche), Kniestrümpfe und breiter Gürtel gehören. Das Image des Männlichen machen den Kilt auch für Gruppen interessant, die nicht für übersteigerte kulturelle und historische Sensibilität bekannt sind.
Hochlandfrauen trugen den Arisaid, ein Kleid aus zurückhaltend gemustertem Wollstoff.
Begünstigt durch kleinformatigeren Rapport und schmalere Schnitte werden Tartanmuster ab Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmend auch für Frauenkleidung verarbeitet. Seit den 1950er-Jahren sind Baumwoll- und Seidengewebe in Tartandesign gebräuchlich. Herrenhemden in Tartanmuster sind heute aus dem Straßenbild nicht mehr wegzudenken. Die weltweite Beliebtheit des Tartanmusters fördert auch seine Verkitschung. Einkaufskarren in Tartandesign sind Rae ein Gräuel. Mit ihrem Buch will sie auch gegen eine allzu substanzlose Verwendung von Tartan anschreiben.
Schottland und England schlossen sich 1707 zum Vereinigten Königreich zusammen, und Schottland erhielt Zugang zu den Märkten des gesamten British Empire. Die katholische schottische Dynastie der Stuarts wurde vom englischen Parlament abgesetzt und vom protestantischen Haus Hannover abgelöst. Der letzte Aufstand der Jakobiten (Anhänger der Stuarts) wurde im April 1746 in der Schlacht von Culloden von den Engländern blutig niedergeworfen.
Culloden bedeutete das Ende der Hochlandkultur, Zerstörung der Clan-Strukturen, Verelendung und Vertreibung. Das Tragen von Highland dress wurde durch den Disclothing Act bei Androhung drakonischer Strafen untersagt. Soldaten waren davon ausgenommen.
Zigtausende Clan-Mitglieder, deren Lebensgrundlage nach Culloden zerstört war, wurden für Highland Regiments rekrutiert, durften weiter Kilt und Trews tragen und wurden im gesamten British Empire zur Durchsetzung der Interessen der Krone eingesetzt. Der Disclothing Act wurde 1782 aufgehoben. Letztlich führte er zur symbolischen Aufladung des Tartan als Rebellen-Outfit, weil durch den Bann Highland dress mit Aufstand gleichgesetzt wurde.
Bis heute ist Culloden im kollektiven Gedächtnis präsent. Alexander McQueen setzte sich in seinen Kollektionen Highland Rape (1995) und Widows of Culloden (2006) damit auseinander. Wiederholt kritisierte McQueen die Romantisierung und Idealisierung der schottischen Geschichte und des Tartan.
Eine neue Phase begann 1822, als mit König Georg IV. zum ersten Mal ein Monarch aus dem Haus Hannover Schottland besuchte. Der Schriftsteller Walter Scott – er führte mit Romanen wie Rob Roy die Figur des wilden, aber noblen Highlanders in die Literatur ein – organisierte ein zweiwöchiges Tartan-Spektakel (Royal Pageant) in Edinburgh. Die nach Culloden in Schottland verbliebenen Clans marschierten in schwingenden Kilts auf. Der Anblick löste in der Presse eine Euphorie sondergleichen aus und setzte landesweit eine Welle der Begeisterung für alles Schottische in Gang. Entzückt waren auch die Karikaturisten, zwängte sich doch der stattliche König in einen viel zu kurzen Kilt.
Seit dem Royal Pageant entwickelte sich Highland dress zur gesamt-schottischen Nationaltracht, zum Symbol für eine schottische Nation, in der Hochland und Flachland zusammengefunden hatten. Das Rebellen-Image des Tartan verlor sich – vorübergehend – und machte selbst in England einer schwärmerischen Betrachtungsweise Platz. Königin Viktoria steigerte die romantische Überhöhung ins Absurde. Das Innere des von ihr in den 1860er-Jahren im Hochland erbauten Schlosses Balmoral war ein Rausch in Karo. Sie führte das Amt des Königlichen Dudelsackspielers ein und eine Leibgarde im Kilt.
Das optische Spektrum des Tartan verbreiterte sich durch die Weiterentwicklung der Webtechnik als Folge der industriellen Revolution. Die Ausdifferenzierung des Rapports und die Benennung der Muster gingen auf das Konto international operierender Unternehmen wie Wilsons of Bannockburn. Diese legendäre Tartan-Weberei – von den 1740er- bis zu den 1920er-Jahren in Betrieb – hat eine Fülle bekannter Muster und Clan-Tartans entworfen und dazu verkaufsfördernde Geschichten erfunden. Entgegen landläufiger Annahme setzten sich Clan-Tartans erst durch, nachdem das Weben großer Stoffmengen in gleichmäßiger Qualität und Tönung möglich geworden war. Im Jahr 1831 waren 54 Tartanmuster registriert, heute sind in der Datenbank der Scottish Tartans Authority 9.000 Muster- und Farbvariationen verzeichnet. Ständig kommen neue hinzu.
Rae hat sich die Entmystifizierung des Tartan und einen objektiven Blick auf seine Geschichte zum Ziel gesetzt, doch das Buch durchziehen patriotische Töne, und anti-englische Ressentiments schleichen sich ein. So beschwören etliche der Fotos von Gemälden aus dem 18. und 19. Jahrhundert einen Gegensatz zwischen noblen und heroischen Highlanders und brutalen Engländern herauf. Rae zitiert eine Reihe schottische Dichter, für die Tartan der Inbegriff gälischer Kultur und England der Erzfeind ist. Gemessen daran nimmt Alexander McCall Smith – in Deutschland durch Detektivromane bekannt – mit seinem eigens für Raes Buch verfassten Gedicht The Idea of Tartan noch eine moderate Position ein. Für ihn ist Tartan „the beat of a country´s heart“ und „the substitute for love and feeling“. Er preist Heldenhaftigkeit und Opfertod von Hochland-Regimentern im Zweiten Weltkrieg und schließt sein Poem mit den Worten: „Do not be afraid to love a land“.
Rückwärtsgewandtheit und Überhöhung des Schottentums dominieren im Kapitel District, das dem Tartan Hawick gewidmet ist. Die südschottische Kleinstadt Hawick geriet nach dem Niedergang der Textilindustrie Anfang der 1990er-Jahre in eine schwere Krise. Der Besitzer der lokalen Weberei gab ein Tartan-Design in Auftrag, das der Stadt zu neuem Selbstvertrauen verhelfen sollte. Das Besondere am Tartan Hawick sind die sieben verschiedenen farbigen Garne, die jeweils für einen bestimmten Strang schottischer Geschichte stehen. Die Farbe Rot im Tartan symbolisiert das Blut der Männer von Hawick, die 1513 im Anglo-Schottischen-Krieg ihr Leben verloren.
Authentizität und regionale Produktion sind Schlüsselbegriffe bei Rae: „my heart sings at the thought of ´Keep it authentic. Keep it local`“. Tartan wird jedoch nicht nur in Schottland produziert, sondern in vielen Ländern der Welt. In Südostasien befinden sich große Produktionsstätten. Das stellt für schottische Tartan-Produzenten und -Liebhaber ein Problem dar, nicht nur in ökonomischer Hinsicht. Das edle, geschichtsträchtige Tuch scheint durch die Herstellung außerhalb von Schottland entweiht zu werden, auf jeden Fall aber seine Besonderheit, seine Authentizität zu verlieren. Die Sicht von Daniel Fearn – dem Mitinhaber von Stewart Christie – ist für die Tartan-Monopol-Fraktion typisch: „If tartan is woven and manufactured in Scotland it is special; if it is woven elsewhere it is still tartan, but lacks that authentic back story – and perhaps isn´t supporting the Scottish economy. […] I`m not keen on the fact that it can be used anywhere, without reason or authenticity. The whole point of tartan was that it would have been an honour to wear it, either as part of the family or as part of the clan“.
Angesichts von Tartan-Spektakeln wie dem Royal Edinburgh Military Tattoo oder der New York City Tartan Day Parade, bei denen auch Zehntausende Nicht-Schotten Tartan anlegen, beschleichen Rae ambivalente Gefühle: „there´s a joy in the national cloth becoming so widespread and, at the same time, there´s a loathing for the diluting and sanitising of one´s past and one´s heritage. Not to mention the cultural appropriation punch in the gut of seeing it worn by the English“.
Kilt-tragenden Engländern kulturelle Aneignung vorzuwerfen, finde ich nahezu chauvinistisch. Ich habe mich gefragt, ob das anti-englische Ressentiment vor dem Hintergrund des andauernden schottischen Unabhängigkeitsstrebens zu sehen ist, das als Folge des Brexit erheblich an Fahrt aufgenommen hat.
Raes Buch erscheint zum 300. Jahrestag der Gründung von Stewart Christie und ist gleichzeitig Hommage und Werbung. Es ist mit leichter Hand geschrieben. Die Materialität von Tartan und seine reizvolle ästhetische Seite werden leider nur kurz abgehandelt, kommen allerdings in vielen Fotos eindrucksvoll zur Geltung. Diese vermitteln auch einen Eindruck von seiner vielseitigen Verwendbarkeit. Die fehlende Beschriftung der Fotos ist allerdings ärgerlich.
Wer Rae gelesen hat, bekommt ein Gespür für die Botschaften, die von einem bestimmten Tartanmuster ausgehen können.
Das ist gerade jetzt, da sich Schottland aus der Union mit England lösen will, durchaus von politischem Interesse. Nicola Sturgeon, Erste Ministerin Schottlands und Nationalistin, trägt neuerdings nicht nur als Schutz gegen Corona eine Maske aus Tartan. Es ist ein politisches Statement.
Trotz aller Kritik: Vixy Raes Buch ist lesenswert, gerade weil es in eine fremde Gedankenwelt einführt und die Geschichte des Tartan wahrhaftig eine besondere ist.
Titelfoto: Tartan-Plaid. Foto © Rose Wagner