Ausstellung / Buchbesprechung:
Sadako Takeda, Sharon u.a.: Reigning Men: Fashion in Menswear, 1715–2015.
Ausst. Kat. LACMA, Los Angeles. Prestel, 2016

 

Im Vergleich zu den dramatischen Veränderungen der weiblichen Silhouette in den letzten 300 Jahren nehmen sich die Wandlungen der Männerkleidung unspektakulär aus, und noch immer hält sich die Auffassung, dass die Französische Revolution der Opulenz und Extravaganz der Männermode den Garaus machte und Farblosigkeit, Nüchternheit und Funktionalität an ihre Stelle setzte. Das Los Angeles County Museum of Art (LACMA) erzählt jedoch eine andere Geschichte.

Im Sommer 2016 zeigte das LACMA in einer Ausstellung mit dem programmatischen Titel Reigning Men Herrenmode aus der Zeit von 1715 bis 2015, die nicht von Verweigerung und Zurückhaltung spricht, sondern von schnitttechnischer Raffinesse, Eleganz, Witz und maskuliner Sportlichkeit. Aufmachung, Kleidungsstücke und Accessoires spiegeln die sich wandelnden Vorstellungen von Männlichkeit wider; sie reichen vom Mieder über Seidenstrümpfe und aufwendig bestickte Brokatwesten bis zu Hawai-Hemden, Tattoos und Camouflage-Outfits und gehen wieder zurück zu Pastellfarben und exzessiver Bartpflege. Es ist ein ständiges Auf und Ab, aber es ist keineswegs farblos, und das Klischee vom Mann im langweiligen grauen Flanellanzug hat nie gestimmt – so das LACMA in Reigning Men.

Alle Ensembles der Ausstellung sind im Begleitkatalog in ganzseitigen Fotos abgebildet. Der Katalog ist facettenreich, anregend und unterhaltend. Informative Essays von Peter McNeil – Professor für Design-Geschichte an der Technischen Universität Sydney – und Tim Banks – Korrespondent von Business of Fashion (BOF) – runden ihn ab.

Buchcover. Foto © Prestel

Buchcover. Foto © Prestel

In fünf Kapiteln – Revolution/Evolution, East/West, Uniformity, Body Consciousness, The Spendid Men – werden das Alte und das Neue in der Herrenmode in den historischen Kontext gestellt und Verbindungen zwischen dem Vergangenem und dem Gegenwärtigem aufgezeigt. Durch die Gegenüberstellung von historischer Kleidung und neuen Designer-Modellen ergeben sich überraschende Verbindungslinien.

So wird eine blau-weiß-rot gestreifte Sansculotte-Hose aus der Zeit der Französischen Revolution nebst kurzer, blauer Carmagnole-Jacke, wie sie die Deputierten von Marseille trugen, einem Modell aus der Sommerkollektion 2014 der belgischen Designerin Anne Demeulemeester gegenübergestellt. Sie variierte und verfremdete einen an die Sansculotten erinnernden Aufzug in einer Weise, dass er gleichzeitig an die modischen Gegenspieler der Revolutionäre – die Incroyables der 1790er Jahre – und an die Punker der 1980er denken lässt. Vivienne Westwood karikierte 1991 in ihrer Herrenkollektion die überspannte Mode der englischen Macaroni der 1770er Jahre, die ihren Namen der hohlen Nudel verdankten. Auch Westwood greift Elemente des Vergangenen auf und verfremdet sie so, dass sie zeitgemäß wirken.

Das Kleidungsstück, das im Katalog Reigning Men am ausführlichsten behandelt wird, ist ein authentischer Zoot Suit aus den frühen 1940er Jahren. Er stammt aus Harlem und ist eine Rarität. Der Zoot Suit gilt als the first truly American suit. In den späten 1930er und frühen 1940er Jahren war er bei jungen Schwarzen und Latinos populär. Mit seiner extrem breiten Schulterpartie und den voluminösen Hosen entfaltete der Zoot Suit seine Wirkung aufs Schönste beim Tanzen von Swing und Jitterbug.

Cab Calloway im Zoot Suit bei einem Bühnenauftritt, um 1930. Foto © The New York Public Library Digital Collections

Cab Calloway im Zoot Suit bei einem Bühnenauftritt, um 1930. Foto © The New York Public Library Digital Collections

Das Kleidungsstück symbolisierte die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, die sich durch ihren Habitus bewusst von anerkannten Normen abgrenzte. Alles beim Zoot Suit war übertrieben: die Stofffülle, die Accessoires, die Frisur und der einstudierte Gang. Mit dem Zoot Suit war ein Total-Look verbunden, wie er sich später auch bei Punkern und Hip-Hop-Anhängern findet – natürlich in jeweils neuer Ausprägung. Zoot Suits standen im Jahr 1943 in Chicago im Mittelpunkt der Zoot Suit Riots. Es war die Zeit des Zweiten Weltkriegs und der Rationierung von Wollstoff. Patriotismus drückte sich im Verzicht auf Sakkos mit überbreiten Schultern, weiten Hosen mit Aufschlägen und auf die Bügelfalte aus. Armeeangehörige fühlten sich von den vermeintlich unpatriotischen Trägern der Zoot Suits provoziert und lieferten sich mit ihnen Massenschlägereien.

Reigning Men stellt den Zoot Suit in die lange Reihe des Dandytums, das von den englischen Macaroni, über die französischen Incroyables, die Dandies des 19. Jahrhunderts bis zu den Teddy Boys der 1950er Jahre und heutigen Hip-Hop-Musikern reicht.

Dandy Robert de Montesquiou, Gemälde von Giovanni Boldini, 1897, Musée d'Orsay, Paris. Foto © Wikimedia Commons

Dandy Robert de Montesquiou, Gemälde von Giovanni Boldini, 1897, Musée d’Orsay, Paris. Foto © Wikimedia Commons

 

Hip-Hop-Musiker. Foto © Dr. Dunny, Wikimedia Commons

Hip-Hop-Musiker. Foto © Dr. Dunny, Wikimedia Commons

Zu allen Zeiten haben sich Männer aufgeputzt, und modische Überspanntheiten leisteten sich auch solche, die sich das Geld dafür vom Munde absparen mussten. Englische Tagelöhner schafften sich im 18. Jahrhundert Perücken an, die einen großen Teil ihrer Entlohnung verschlangen. Junge Latinos und Schwarze kauften ihre Zoot Suits auf Pump. Farbige bestellten den Anzug meist beim Versandhandel, weil ihnen wegen der Rassentrennung das Betreten der Ladengeschäfte und die Nutzung der Umkleidekabinen untersagt war.

Auch wenn der Zoot Suit als typisch amerikanisch gilt, wies er doch schneidertechnische Anklänge an einen europäischen Anzugtyp der 1930er Jahre auf, den English Drape. Dessen Kennzeichen waren breite Schultern, weite Hosen mit Bügelfalte und ein leicht aufgestauchter Saum. Er war in der Savile Row in London entwickelt worden, die noch heute für ihre Herrenschneider berühmt ist. Einer der jüngsten ist Ozwald Boateng – Sohn von Einwanderern aus Ghana –, der britischen Woll-Tweed mit den expressiven Farben und Mustern Westafrikas verbindet. In Reigning Men sind mehrere seiner Anzüge zu sehen.

Der Aufstieg der Savile Row begann, als sich Ende des 18. Jahrhunderts das modische Gravitationszentrum von Frankreich nach England verschob. Sportliche Aktivitäten wurden in England immer populärer, und für Reit- und Wanderkleidung eignete sich Wollstoff am besten. Die Schneider der Savile Row waren auf die Verarbeitung von Wollstoffen spezialisiert; das machte sie zu den bevorzugten Lieferanten passgenauer Uniformen für die militärischen Eliten. Die Kunden ließen sich nach Beendigung ihrer Militärlaufbahn auch die Kleidung für den zivilen Alltag in der Savile Row schneidern, wie es der Ur-Dandy Beau Brummel tat. Tim Banks behauptet, die Männerwelt verdanke Beau Brummel den modernen Anzug. Reigning Men belegt mit vielen Beispielen, dass der vermeintlich normierte Anzug hinsichtlich Farbe, Muster, Material und schnitttechnischen Details zu allen Zeiten durchaus variantenreich war.

Seit Jahrhunderten bestehen textile Wechselbeziehungen zwischen Ost und West. Dekorative indische Stoffmuster waren seit Ende des 17. Jahrhunderts bei europäischen Männern beliebt.

Paisley-Muster, Muster vorgestellt bei Great Exhibition of Works of Industry, London 1851. Foto © The New York Public Library Digital Collections

Paisley-Muster, London 1851. Foto © The New York Public Library Digital Collections

Viktorianische Gentlemen legten Smoking-Jacken aus Samt an und setzten bunt bestickte Kappen mit seidenen Troddeln auf, wenn sie sich zum Tabak-Rauchen zurückzogen, das in der Folge des Krimkriegs (1853-56) aufgekommen war. Spielerischer Exotismus bot in einer Zeit beginnender Normierung der Geschäftskleidung eine willkommene Abwechslung.

Modische Einflüsse verlaufen nicht nur in eine Richtung. In Japan fand die britische Schneiderkunst Anhänger, seit die Häfen für westliche Handelsnationen geöffnet wurden. Im Katalog ist ein Inverness Cape – ein Herrenmantel mit schulterlanger Pelerine – aus dem Jahr 1925 abgebildet, komplettiert mit Homburg und Spazierstock. Die Armlöcher des Mantels wurden vergrößert, damit die Ärmel eines Kimonos Platz fanden. In den 1970er und 1980er Jahren verlief der Einfluss in die andere Richtung, als japanische Designer westliche Vorstellungen von modischer und schöner Kleidung in Frage stellten.

Was lässt sich aus den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte für die Zukunft der Herrenmode ableiten? Reigning Men präsentiert drei Modelle, in denen sich Trends verdichten. Der aus Dubai stammende Designer Ahmed Abdelrahman verbindet in seinem Label Thamanyah arabische und westliche Kleidungsstile. Das traditionelle, knöchellange Gewand der Golfregion – Dischdascha oder Kandora genannt –, ist bei ihm schwarz statt weiß und schließt am weiten Halsausschnitt mit einem Stehkragen ab. Das Gewand ist ärmellos, damit die mit Tattoos bemalten Arme des Trägers sichtbar werden können. Die Japanerin Rei Kawakubo lässt in ihrem Modell die Grenzen zwischen Frauen- und Männermode verschwimmen und bedeckt einen schwarzen, gerade geschnittenen Gehrock mit Rüschen und Volants. Ein formeller, weißer Smoking über einem bodenlangen weißen Baumwollkleid stellt den Versuch des amerikanischen Designers Rick Owens dar, das Formelle mit dem Zwanglosen zu verbinden.

Die Verwischung von Grenzen ist das hervorstechende Merkmal der aktuellen Männermode. Sport- und Alltagskleidung sind kaum noch zu unterscheiden, Unterwäsche wird alltagstauglich, es gibt keine dominanten Farb- und Muster-Codes mehr.

Flaneure auf dem Kurfürstendamm, 2016. Foto © Rose Wagner

Flaneure auf dem Kurfürstendamm, 2016. Foto © Rose Wagner

Dresscodes haben – weitgehend – ihre verbindliche Geltung verloren. Modisch gesehen, ist Männern heute fast alles erlaubt. Ist das eine Befreiung oder eine Bürde? Reigning Men fördert die Diskussion über diese Frage.

Flaneure auf der Rue du Faubourg Saint-Honoré, Paris, vor der Boutique Colette. Foto © Rose Wagner

Flaneure auf der Rue du Faubourg Saint-Honoré, Paris, vor der Boutique Colette. Foto © Rose Wagner

 

Titelbild: Zaungäste bei der New York Fashion Week, 2014. Foto © Rose Wagner