Ausstellung Auf nackter Haut ‒ Leib. Wäsche. Träume
Haus der Geschichte Baden-Württemberg
Stuttgart > 22.05.2015 ‒ 31.01. 2016
An Ausstellungen über Unterkleidung war in den letzten Jahren kein Mangel. New York, London, Paris, München. Es ging um Reifröcke, Schnürmieder, Korsetts und Büstenhalter, um Unterröcke, Nachthemden und Morgenmäntel. Es ging um Erotik und Intimität, Eleganz und Froufrou. Es ging um Seide und Spitzen, um Silhouetten, Männerphantasien und weibliche Sinnlichkeit. Eine Ausstellung, die sich ausschließlich gewirkter und gestrickter Wäsche widmet und auch die profane Männerunterhose würdigt, gab es bislang nicht.
Diese Lücke wird vom Haus der Geschichte Baden-Württemberg in Stuttgart geschlossen. Das Museum ist in der glücklichen Lage, auf das Produktarchiv des Wäscheherstellers Schiesser mit weit über 1000 historischen Wäschestücken aus 135 Jahren zurückgreifen zu können. Diese Sammlung bildet die Grundlage einer Ausstellung zur Kulturgeschichte der Wäsche. Komplettiert wird sie durch Stücke aus dem Archiv von Benger ‒ dem zweiten geschichtsträchtigen Textilunternehmen der Region. Die Namen Schiesser und Benger stehen für die Blütezeit der südwestdeutschen Textilindustrie.
Die zentrale These der Ausstellung lautet: Der Zuschnitt der Unterwäsche ist Ausdruck einer zeittypischen Körpersprache (Paula Lutum-Lenger). Mehr als 400 Exponate umspannen den Zeitraum vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. In Schnittformen und verarbeiteten Materialien ‒ von Wolle, Baumwolle, Kunstseide, Elastan bis zu Öko-Tex-Standards ‒ spiegeln sich die Zeitläufe wider. Die Textilien und historischen Werbemittel sind in fünf chronologisch organisierten Einheiten nach Art von Schaufensterauslagen dekoriert.
Auf Monitoren laufen Ausschnitte aus Filmen, die das zeittypische Wäsche- und Körperideal besonders deutlich machen. Im britischen Propaganda-Film Battle of the Somme (1916) waschen erschöpfte Soldaten während einer Gefechtspause ihre langen Unterhosen in einem Fluss. Die Verletzlichkeit des menschlichen Körpers ist nirgends größer als auf dem Schlachtfeld, gesteigert wird der Eindruck der Schutzlosigkeit durch die Unterwäsche der Soldaten. In Leni Riefenstahls Olympia (1939) wird dagegen der nackte Körper athletisch, heroisch und entsexualisiert inszeniert. In Zur Sache Schätzchen (1967) mit Uschi Glas wird ein anderes Körperideal vorgeführt. Die Protagonistin kehrt eingeübte Rollenmuster um und provoziert bewusst mit ihrem Körper. Die Integration von Filmszenen bringt Abwechslung und Leben in die lange Reihe von Wäschestücken.
Der Gang beginnt mit einem Rundwirkstuhl. Auf diesen Maschinen entstand die sogenannte Schlauchware aus Baumwoll- und Wollgarnen. Aus ihr wurden die Teile der Unterwäsche und Nachtwäsche zugeschnitten und zusammengenäht. Die industriell gefertigte Massenware war gegenüber der in Heimarbeit hergestellten Leinenwäsche wesentlich preisgünstiger und wegen des schmiegsamen Gewirkes angenehmer zu tragen.
Wilhelm Benger (1818-1864), ein Strumpfwirker aus Stuttgart, nutzte bereits ab 1851 einen Rundwirkstuhl zur Herstellung von Trikotagen. Seinen Söhnen verhalf die Zusammenarbeit mit dem Stuttgarter Arzt und Zoologen Gustav Jäger (1832-1917), die 1879 mit einem Exklusiv-Vertrag über die Herstellung von wollener Unterkleidung besiegelt wurde, zu einem beispiellosen Erfolg.
Um Zollschranken zu umgehen, verlegte der Schweizer Jacques Schiesser (1848-1913) im Jahr 1875 seine Weberei nach Radolfzell am Bodensee. Sie entwickelte sich unter dem Namen Mechanische Tricot-Weberei zu einem der größten Textilunternehmen Europas. Bis zum Ersten Weltkrieg gingen die fertig konfektionierten Waren von Schiesser zu über 80 % in den Export – unter anderem in die Vereinigten Staaten und Indien –, wo sie zum Teil gegen Baumwolle getauscht wurden.
Die Geschichte der Trikotagen (vom französischen tricoter = stricken) begann mit der Männerunterhose. Hygienische Gründe gaben um 1860 beim Militär den Ausschlag für die Einführung gewirkter Unterhosen aus Baumwolle.
Bis dahin bestand die gebräuchliche Männerunterkleidung aus einem langen Unterhemd, dessen Schöße durch den Schritt gezogen wurden. Der Ausspruch Mach dir nicht ins Hemd hat hier seinen Ursprung. Große Teile der männlichen Bevölkerung gewöhnten sich während ihres Militärdienstes an das neue Wäschestück. Wer hätte für möglich gehalten, dass der Militärdienst derart segensreiche Wirkungen haben könnte?
Seit dem späten 19. Jahrhundert wurden Männerunterhosen beworben und in eigens eingerichteten Abteilungen großer Warenhäuser verkauft – beispielsweise bei Breuninger in Stuttgart seit 1891.
Der Erfolg der gewirkten Leibwäsche basierte nicht nur auf technischen Innovationen und neuen Vermarktungsstrategien. Ebenso wichtig waren die veränderten Lebensbedingungen im Industriezeitalter sowie Fortschritte in Medizin und Hygiene. Die Unterwäsche stand im Mittelpunkt ideologischer Auseinandersetzungen über richtige Lebensführung, Körperhygiene und Bewegung. Über Zuschnitt und Material wurde vehement gestritten.
Der erwähnte Gustav Jäger forderte, Unterwäsche müsse wetterfest, affektfest, seuchenfest sein und propagierte ein Wollregime. Auch die Wäsche von Schiesser sollte neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen über Hygiene und Stoffwechsel Rechnung tragen, deshalb wurde ein spezielles Wirkverfahren für sogenannte Abhärtungswäsche mit frottierender Wirkung aus Baumwolle entwickelt. Die Knüpftrikots mit ihren weiten, maximal luftdurchlässigen Maschen wurden als Triumph der Technik beworben. Für Frauen gab es mit dem Flechttrikot eine weichere Version.
Die Trikotwäsche für Frauen hatte einen schwereren Start, kein Militärdienst erzwang hygienische und praktische Unterwäsche. Die gebräuchliche Unterkleidung bestand um die Jahrhundertwende aus einem im Schritt offenen Beinkleid, langem Unterhemd, Korsett, Korsettschoner, Halbrock und Anstandsrock. Das herrschende Schönheitsideal sah eine Taille vor, die idealerweise so schmal sein sollte, dass zwei Männerhände sie umfassen konnten. Nur mit einem einschnürenden Korsett und Zerren und Zurren konnten Frauen diesem Ideal nahekommen.
Schiesser produzierte Untertrikotagen, die das Korsett entbehrlich machten und hygienischer und gesundheitsförderlicher waren als die offenen Beinkleider. Gefertigt wurden Hemdhosen aus Leinen sowie Reformunterhosen aus Baumwolle, die im Schritt wohlverschlossen und aus praktischen Gründen mit einer rückwärtigen Klappe versehen waren. Ansprechend sahen diese gesunden und hygienischen Artikel nicht unbedingt aus, obgleich kleine Verzierungen appliziert waren.
Trotz der vielfachen Vorteile der modernen Wirkwaren wollten viele Frauen zunächst nicht auf Korsett und selbstgenähte Leinenunterwäsche verzichten. Erst mit zunehmender Frauenberufstätigkeit – oft in der Textilindustrie – veränderte sich allmählich das Konsumverhalten. Mit der reduzierten und körpernahen Wäsche wird sich auch die Bewegung verändert haben, und das Schwingen und Rascheln der vielen Röcke verschwand.
Die gewandelte Körperwahrnehmung zeigte sich um 1900 auch in der aufkommenden Sportbewegung, für die sich Trikots, wie Sporthemden auch genannt wurden, aus elastischem Gewirke als ideal erwiesen. Benger lancierte im Jahr 1911 die Modelinie Ribana (nach einem Indianermädchen in einem Roman von Karl May) und etablierte sich als führender Anbieter von Bade- und Sportmode.
Während der Weltkriege wurden Rohstoffzuteilung und Produktion von Textilien von staatlicher Seite gelenkt und die Produktion auf den Heeresbedarf ausgerichtet. Durch den Ersten Weltkrieg verlor die Trikotagen-Industrie zwar Geschäftsfelder im Ausland, doch im Inland setzten sich in der Nachkriegszeit bei Frauen die Trikotagen endgültig durch. Sie waren das ideale Darunter für die neue schlanke Modelinie der 1920er Jahre.
Ab 1947 kam es zu einer Renaissance ausgeprägt weiblicher Wäsche mit Büstenhalter, Hüftgürtel, Korselett und Unterkleid, die meist aus synthetischen Garnen gefertigt wurden. Flamingo und Türkis wurden zur Modefarbe, beliebt waren auch lachsfarbene Schlüpfer. Nacht- und Luxuswäsche aus Perlon avancierte in den 1950er Jahren zum Statussymbol. Es gab viel Spitze. Auf die zunehmende Frauenberufstätigkeit reagierte die Wäscheindustrie mit immer pflegeleichteren Produkten.
In die 1960er Jahre fällt die Markteinführung elastischer Materialien wie Lycra. Auf die Ablehnung des Büstenhalters durch Feministinnen in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren reagierte die Miederwarenindustrie mit transparenten und leichten Modellen, die bei Schiesser mit dem Slogan Frei – aber nicht haltlos beworben wurden. In dieser Zeit entwickelte sich eine eigene Jugendmode. Junge Frauen bevorzugten andere Schnitte, Farben und Muster als ihre Mütter.
Die 1980er Jahre werden als Jahrzehnt der Wiederentdeckung der Wäschelust bezeichnet. Mit Korsetts und Bustiers als Bühnen-Outfit löste Madonna bei ihrer Who`s-that-girl-Tour (1987) einen Trend zur Integration von Dessous-ähnlichen Wäschestücken in die Oberbekleidung aus. Schon zuvor hatte Jane Fonda mit ihrem Aerobic-Aufzug dazu beigetragen, dass Einteiler (Body), Leggings und Stulpen alltagstauglich wurden und sich die Grenzen zwischen Ober- und Unterkleidung immer mehr verwischten.
Bei der Herrenwäsche verliefen die Veränderungen langsamer. Kurze Unterhosen gibt es seit den 1930er Jahren. Seit 1923 fertigte Schiesser Unterwäsche in Feinripp-Optik, die in den 1950er Jahren zum Standard wurde, ebenso wie ein seitlicher Eingriff.
Da die neuen kurzen Unterhosen durch ein elastisches Band gehalten wurden, kamen sie ohne Sattel und Knöpfe aus und reduzierten den Pflegeaufwand erheblich. Das Gummiband wurde weiterentwickelt und spielt heute – versehen mit einem Schriftzug des Wäscheherstellers – bei jüngeren Unterhosenträgern mit tiefsitzenden Jeans eine wichtige Rolle.
In den 1960er Jahren wurde aus Amerika die Slipform übernommen, die sich bis heute neben Boxershorts behauptet.
Farblich ging es bei der Männerunterwäsche lange eintönig zu, obwohl auch Gewagteres produziert wurde. In der Ausstellung ist eine Garnitur in Rosa aus der Zeit um 1935 zu sehen, die aus Schlupfhose und Unterhemd besteht. Man wüsste zu gern, ob die jemals in den Handel kam und wer sie wohl getragen haben könnte. Rosa!
Die meisten Männer bevorzugten weiße Unterwäsche – in der Werbung dominiert sie noch –, doch kräftige und dunkle Farben sowie bunte Muster drängen sich vor.
Wie grundlegend sich männliches Körperbild und Selbstverständnis seit der Erfindung der gewirkten Unterhose im 19. Jahrhundert verändert haben, dokumentiert die aktuelle Werbung. Prominente wie David Beckham und Rafael Nadal zeigen ihre durchtrainierten Körper in nichts als einer Unterhose, die zwar nicht alles offenlegt, aber doch alles betont. Das sagt einiges über den Wegfall sexueller Tabus aus.
Die Geschichte der gewirkten Unterwäsche geht weiter. Die klassischen Schnitte werden beibehalten, selbst lange Unterhosen – im Winter noch immer ein unentbehrliches Requisit – werden weiterhin angeboten. Neue Schnitte – etwa String-Slips – kommen hinzu.
Die Gender-Debatte hat auch die Unterwäsche erreicht. Das schwedische Label Acne bietet seit kurzem geschlechtsneutrale Unterhosen an, und die britische Einzelhandelskette M&S meldet, dass über die Hälfte der Männerunterhosen von Frauen gekauft werden, um sie selbst zu tragen (The Guardian, 29.10.2014).
Nachzutragen bleibt, dass Schiesser seit einigen Jahren einem israelischen Konzern gehört und in der Serie Revival Modelle in Feinripp-Qualität aus seinem alten Sortiment wieder auflegt. Benger stellte seinen Betrieb 1983 ein, in Stuttgart existiert jedoch noch ein Wäschegeschäft in Familienbesitz – Maute Benger.
Der Katalog zur Ausstellung ist ansprechend gestaltet, reich bebildert und enthält lesenswerte und aufschlussreiche Beiträge von Thomas Schnabel, Paula Lutum-Lenger und Immo Wagner-Douglas.
Titelbild: Werbeplakat, Schiesser, um 1970. Foto © HdGBW