Ausstellung „Lift your head, give me the best side of your face
Objekte von Gavin Kenyon
Museo Marino Marini, Florenz > 20.04. – 10. 06. 2015

 

Wieviel Textiles muss ein Werk enthalten, damit es als Textilkunst klassifiziert wird? Geht es bei Textilkunst um den Anteil des Textilen, um die Technik der Verarbeitung oder um die textile Anmutung?

Der amerikanische Künstler Gavin Kenyon (geb. 1980) zieht seit einigen Jahren die Aufmerksamkeit der internationalen Kunstszene auf sich. Er ist bei der Art Basel präsent und stellt in namhaften europäischen Galerien aus. Das New Yorker MOMA widmete ihm im Jahr 2014 eine Einzelausstellung. Typisch für Kenyon ist die Mischung von strengen architektonischen sowie von ungezähmten Formen wie sie sich in der Natur finden. Die Verbindung von formaler Konstruktion mit Elementen anarchischer Unbeherrschtheit verleiht seinen Objekten eine spezifische Spannung. Er verwendet gebrauchte Textilien und verfüllt sie mit einem eigens entwickelten Gussbeton.

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Liegende Textil-Betonschläuche

Achtzehn skulpturale Objekte sind unter dem wenig aussagekräftigen Titel Lift your head, give me the best side of your face in der dämmerigen Hallenkrypta der ehemaligen Kirche San Pancrazio – heute Museo Marino Marini – in der historischen Altstadt von Florenz zu sehen. Kenyon hat sie speziell für diesen Ort geschaffen. Oben erstreckt sich die entkernte, lichtdurchflutete Oberkirche, deren Anfänge bis ins 6. Jahrhundert zurückreichen. Seit 1806 ist die Kirche als Folge der von Napoleon durchgesetzten Säkularisation kein Sakralbau mehr und beherbergt heute das Werk des Bildhauers und Malers Marino Marini (1901-1980).

Blick in die Ausstellung

Blick in die Ausstellung

Beim Hinabsteigen in die Unterkirche fällt der Blick auf weiträumig verteilte horizontale und vertikale Plastiken. Die lotrechten Stelen symbolisieren zweifellos Phalli. Sie stehen isoliert von den liegenden Objekten, die schlaffen Wülsten aus Stoff gleichen, welche jemand achtlos auf einen Haufen geworfen hat. In der steinernen Umgebung der Krypta wirken die Formen irritierend grotesk, weil sie an einem solchen Ort nicht zu erwarten sind. Sie scheinen gleichzeitig biegsam und starr zu sein.

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Stele mit Kunstpelz

Die Erinnerung an Plastiken der Bildhauerin und Textilkünstlerin Magdalena Abakanowicz (geb. 1930) – sie waren im Sommer 2011 im TextilWerk Bocholt und 2015 beim Berliner Gallery Weekend zu sehen – stellt sich ein. Ihre aufragenden Objekte aus Beton und Sackleinen, die menschlichen Körpern ohne Kopf ähneln und von ihr als Mutanten bezeichnet werden, erzeugen ebenso ein Gefühl des Unheimlichen.

„Mutant“ von Magdalena Abakanowicz im TextilWerk Bocholt

Wir sind die einzigen Besucher der Ausstellung in der Krypta. Unerwartet taucht Malgorzata ‒ Erasmus-Studentin einer polnischen Kunsthochschule ‒ auf. Während ihres Aufenthaltes im Museo Marino Marini soll sie Besuchern das Werk Gavin Kenyons erklären. In seinen Plastiken will er die Oberflächenstruktur von Geweben hervortreten lassen. Allein mit bildhauerischen Techniken sei deren spezifische Optik nicht zu erreichen. Aus gesammelten Altkleidern und Kunstpelz-Textilien sucht er solche Teile aus, die auch nach einer Behandlung mit Gussbeton ihre textile Optik und möglichst viel von ihrer Farbe behalten. Rechteckige Stoffteile werden in Quilt-Technik zu langen Schläuchen zusammengenäht, mit Gussbeton verfüllt und vor dem Erstarren des Materials in die gewünschte Form gebogen, damit die Skulpturen im endgültigen Zustand bewegt wirken.

Der Gussbeton wirft hin und wieder Blasen, und ist auch nicht immer ganz glatt. Diese Unebenheiten des Materials verstärken den ungewöhnlichen optischen und haptischen Effekt der fertigen Skulptur. Beim Zusammennähen der Stoffteile verstärkt Kenyon einzelne Nähte, damit nach der Verfüllung des Stoffschlauches mit dem Gussbeton ein reliefartiger Effekt hervortritt. Einschnürungen an anderer Stelle bringen gegenläufige Bewegung in das Ganze.

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Einschnürungen und Verstärkungen

Malgorzata ermuntert uns zum Befühlen der Plastiken, um den textilen Ursprung der Objekte zu erfassen. Die Oberflächen sind rauh, die Nähte der zusammengefügten Stoffteile deutlich spürbar. Das Streichen mit den Fingern über die Partien mit Kunstpelz löst eigenartige sensorische Empfindungen aus. Der Pelz sieht struppig aber natürlich aus und leistet den Fingern einen leichten Widerstand. Wie Beton fühlt er sich aber nicht an, er ist auch nicht so kalt.

Farbreste

Farbenspiel

Ohne ihre textile Basis könnten die Objekte Kenyons nicht ihren plastischen Effekt erzielen. Erst die zugrunde gelegten textilen Gewebe mit ihren Oberflächenstrukturen verleihen ihnen ihre markante Körperlichkeit und starke sinnliche Präsenz. Die Wirkung wird durch den Ort – die Krypta – und die sparsame Anordnung im Raum noch verstärkt.

Es fällt nicht leicht, die Skulpturen Kenyons ohne Weiteres der Kategorie Textilkunst zuzuordnen; um traditionelle Bildhauerei handelt es sich allerdings auch nicht. Die Zahl der KünstlerInnen, die Material und Techniken aus beiden einst klar abgegrenzten künstlerischen Bereichen miteinander mischen, nimmt zu. Die Bildhauerin Louise Bourgeois (1911-2010) war eine der ersten, die ihren Plastiken durch die Hinzufügung von Textilem eine expressive Kraft verlieh, die sich nicht zuletzt aus der Gegensätzlichkeit des verwendeten Materials ergab. Auch die bereits erwähnte Magdalena Abakanowicz bringt Textilkunst und Bildhauerei zusammen.

Magdalena Abakanowicz Sackleinen und Beton von

Magdalena Abakanowicz
Sackleinen und Beton im TextilWerk Bocholt

Gavin Kenyons Textil-Beton-Schläuche sind ein weiterer Beleg dafür, dass die Einbeziehung von textilem Material und die Anwendung textiler Techniken der Bildhauerei neue Dimensionen eröffnen. Umgekehrt gilt das Gleiche.

Alle Fotos © Rose Wagner