„Die Imagination der Form. Das Tutu“
Vortrag von Dorothea Katzer
Deutsche Oper Berlin > 17.03. 2015, 19:00 Uhr
Wer weiß schon, dass Katharina von Medici den Tanz an den französischen Hof brachte, dass Ludwig XIV. selbst in einer Aufführung tanzte, dass sein Finanzminister Colbert die Ausgaben für die luxuriösen Kostüme beschränkte und durch ein Importverbot für Seidengewebe aus dem Orient dauerhaft die französische Textilproduktion stärkte?
Wie der Tanz immer professioneller wurde, welcher Zusammenhang zwischen Tanz-Technik und Kostümen besteht und wie der Rock immer kürzer wurde, bis er im Tutu die Form fand, die wir heute kennen: tellerrund, fast waagerecht abstehend, wippend und jede Bewegung der Tänzerin betonend – das erzählte Dorothea Katzer, die Kostümdirektorin der Deutschen Oper Berlin, am 17. März 2015.
Das Foyer de la Danse glich einer Werkstatt für Ballettkostüme. An drei Ständern hingen gut zwei Dutzend Tüll-Tutus in allen Farben, mit und ohne Oberteil, aufwändig bestickt, mit ornamentalen Applikationen verziert oder reich mit Bändern oder Federn geschmückt. Ein Ständer war den Kostümen aus der laufenden Produktion „Dornröschen“ vorbehalten. An den rund 200 Kostümen für „Dornröschen“ arbeiteten 58 MitarbeiterInnen der Kostümwerkstätten fast ein Jahr.
Auf langen Arbeitstischen lagen Zubehör und Konstruktionsskizzen, Zettel mit Berechnungen, Bänder und Borten, Ordner mit Fotos der Kostüme laufender oder vergangener Aufführungen, Stoffmuster für die Tutus und die dazu passenden Ballett-Schuhe.
Bei aller textilen Leichtigkeit sind Tutus hochkomplexe Gebilde, deren „Bau“ bestimmten Prinzipien folgt und die vielfachen Anforderungen genügen und keineswegs nur den Erwartungen des Publikums an Opulenz und Glitzer entsprechen müssen. Der Kostümentwurf und die Fertigung der Tutus erfolgen in enger Abstimmung mit dem Choreographen.
Ein Tutu sitzt auf einer Passe und besteht aus bis zu 11 einzelnen Tüllschichten. Sie werden mit feinen Stichen unsichtbar zusammengehalten, damit der Stoff bei der Bewegung nicht auseinanderfliegt, die Tänzerin verdeckt oder ihre Bewegungen stört.
Der Umfang des Rockes darf nicht zu groß sein, um die Sicht nicht zu behindern und den Abstand zu den Mittanzenden nicht zu groß werden zu lassen. Obwohl der Rock kurz ist, darf das Höschen nicht sichtbar sein, sondern nur die Beine der Tänzerin.
Der Tüll darf nicht zu steif sein, deshalb wird heute eher Perlon-Tüll statt Baumwoll-Tüll verwendet. Die einzelnen Tüllschichten werden mit Zackenkanten versehen, um den Stand des Röckchens zu verbessern und den Effekt beim Wippen zu verstärken.
Die Corsage wird nicht fest mit dem Tutu verbunden, um die Tänzerin beim Dehnen des Oberkörpers nicht zu behindern und um zu vermeiden, dass der Busen freigelegt wird. Allein die Verbindung zwischen Oberteil und Rock ist eine Kunst für sich. „Das gesamte Tutu besteht aus Problemzonen“, kommentierte Dorothea Katzer.
Die vielen Kostüme, die sie zeigte, gaben dem Vortrag seine besondere Note. Im Staatsballett Berlin wurden in den letzten Jahrzehnten etliche historische Kostüme „nachgebaut“, unter anderem das mit echten Federn besetzte Tutu, das Anna Pawlowa als sterbender Schwan 1905 in der Choreographie von Michail Fokin in „Schwanensee“ trug. Es stand, wie auch einige andere bemerkenswerte Kostüme, die auf Puppen drapiert waren, als Beispiel dafür, wie unterschiedlich die Form der Passe, die Konstruktion des Oberteils und des Tutus sein können.
Die Fertigung eines Tutu-Rockes mit seinen vielen Schichten und aufwändigen Verzierungen dauert zwischen 25 bis 35 Stunden. Das Oberteil braucht mindestens genauso viel Zeit. Und an einem „großen Tutu“ einer Primaballerina in einer besonders opulenten Produktion sitzen die Näherinnen und Stickerinnen zwischen 90 und 120 Stunden. Ein Tutu ist wertvoll und teuer wie ein Haute-Couture-Modell.
Deshalb war es so wunderbar, dass nach dem Vortrag die Tutus angefasst und untersucht werden durften. Frau Katzer und ihre Kolleginnen beantworteten geduldig die Fragen der vielen Besucherinnen zu allen handwerklichen Details.