Es ist eine allgemeine Erkenntnis, dass in extrem belastenden Lebenssituationen die Beschäftigung mit geistigen Dingen hilfreich sein kann. Das Rekapitulieren von Rilke-Gedichten und der Rhythmus der Poesie können in Krieg und Bombenhagel, in Lager und Gefängnis, bei Flucht und Verhör den Lebensmut erhalten und vorübergehend Schrecken und Grauen verdrängen.

Dagegen ruft es oft Unverständnis hervor, wenn Frauen sich selbst in größter Not um ihr Aussehen sorgen, Lippenstift auflegen, die Haare sorgfältig richten und ihre spärliche Lebensmittelration gegen ein Stück Seife eintauschen. Gibt es nichts Wichtigeres? Sind diese Frauen extrem eitel? Oder geht es darum, sich selbst und anderen zu zeigen, dass sie sich noch nicht aufgegeben haben? Ist das Schönmachen womöglich ein Versuch, in einer Welt, in der alle bekannten Regeln außer Kraft gesetzt sind, einen Anschein von Normalität aufrecht zu erhalten?

In den Jahren 1939 – 1945 wurden Frauen aller kriegsführenden Länder zu Tätigkeiten in Industrie und Armee verpflichtet, die vor dem Krieg ausschließlich Männern ausübten. Jetzt waren die Männer an der Front, und die Frauen trugen bei ihrem Arbeitseinsatz zweckmäßige maskuline Kleidung. Viele verliehen ihrer Arbeitsuniform jedoch einen genuin femininen Hauch, indem sie einen Gürtel in besonderer Weise banden oder Taschentücher effektvoll als Turban drapierten.

Arbeiterin in der Rüstungsindustrie, ca. 1941.  Foto © Imperial War Museum

Arbeiterin in der Rüstungsindustrie, ca. 1941. Foto © Imperial War Museum

Auf amerikanischen und britischen Propagandafotos ist das gebundene Tuch – oft in frischen Farben und fröhlichen Mustern – ein wiederkehrendes Motiv.

Plakat „Rosie the Riveter“, ca. 1942. Foto © J. Howard Miller / Museum of American History, Washington, DC.

Plakat „Rosie the Riveter“, ca. 1942.
Foto © J. Howard Miller / Museum of American History, Washington, DC.

Wenn ihre Weiblichkeit nicht auf der Strecke blieb, waren Frauen leichter für den kriegswichtigen Arbeitseinsatz zu gewinnen. Während in totalitären Diktaturen wie dem nationalsozialistischen Deutschland Lippenstift und Schminke als dekadent galten, zeigen Fotos des britischen Propagandaministeriums Frauen in der Luftabwehr, die während ihres Einsatzes die Lippen nachziehen.

Bei der britischen Luftabwehr, 1940. Foto © Ministry of Information / Imperial War Museum

Bei der britischen Luftabwehr, 1940. Foto © Ministry of Information / Imperial War Museum

Welche Bedeutung die kleine Geste des Lippenstift-Auftragens in extremen Situationen für weibliche Selbstbehauptung spielen kann, schildert die Journalistin Henriette Schroeder in ihrem Buch „Ein Hauch von Lippenstift für die Würde“. In 23 Gesprächen mit Frauen, die Krieg, Belagerung, Inhaftierung und Erniedrigung erlebt haben, scheint immer wieder ein Leitmotiv auf: Eine gepflegte Erscheinung selbst unter widrigsten Bedingungen dient dazu, Würde und Selbstwertgefühl zu behaupten.

Die Bosnierin Senka Kurtović trug während der 1425 Tage dauernden Belagerung Sarajevos täglich Lippenstift auf und achtete auf adrette Kleidung. Das half ihr, einen Anschein von Normalität aufrechterhalten. Die Tschetschenin Zara Murtazalieva saß acht Jahre in einem russischen Arbeitslager. Für sie bedeuteten Lippenstift und gewaschenes Haar bei der Zwangsarbeit den Sieg des Lebens über den Terror. Melissa Fleming vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) erlebte, dass syrische Flüchtlingsfrauen in Lagern in Jordanien, im Libanon und der Türkei Schönheitssalons einrichteten. Auch eritreische Flüchtlinge eröffneten in einem Camp mitten in der sudanesischen Wüste ein provisorisches Kosmetikinstitut. Noch in der notdürftigsten Unterkunft hängt ein Spiegel.

Ein Spiegel erlaubt die Kontrolle über das eigene Gesicht und hilft, sich seiner Individualität zu versichern. Die bewusste Vorenthaltung eines Spiegels wird als psychische Folter erfahren. Edda Schönherz saß drei Jahre als politischer Häftling in Gefängnissen der DDR-Staatssicherheit. Nicht einmal eine Spiegelscherbe wurde ihr gelassen, sie wusste nicht mehr, wie sie ausschaute und fühlte sich dadurch beim Verhör zusätzlich erniedrigt. Herta Müller verlieh es Kraft, wenn sie sich vor dem Verhör durch den rumänischen Geheimdienst schminkte. Wenn die Bedrohung besonders schlimm wurde, legte sie noch mehr Wert auf gutes Aussehen als sonst. „Wenn ich mich nicht mehr schminke, wenn mir das nicht mehr wichtig ist, habe ich mich aufgegeben“.

Während der chinesischen Kulturrevolution, als farbige Kleidung, Make-up und lockiges Haar bei Strafe verboten waren, als alle gleich aussehen mussten, band sich Emily Wu einen Faden farbiges Garn um das Gummiband, das ihren Pferdeschwanz hielt. Allein dieser kaum wahrnehmbare Hauch von Farbe in ihrem tristen Alltag und das Unterlaufen der verordneten Gleichförmigkeit machten ihr Leben für einen Moment erträglicher.

Henriette Schroeder zitiert auch aus der Erinnerungsliteratur von Überlebenden deutscher Konzentrationslager und sowjetischer Gulags. Selbst im Grauen dieser Umgebung achteten Inhaftierte auf ihr Äußeres. Im KZ Ravensbrück half eine Schneiderin aus dem Atelier der Modeschöpferin Elsa Schiaparelli ihren Leidensgenossinnen, Lageruniformen abzuändern und den ausgemergelten Körpern anzupassen. Die Tschechin Nina Jirsíková zeichnete gar ein satirisches „Ravensbrücker Modejournal“, das „Modevorschläge für den anspruchsvollen Häftling“ enthielt. Einige Zeichnungen sind in dem Buch von Henriette Schroeder abgedruckt.

In kleinen Handlungen, die nahezu nutzlos und sinnlos erscheinen mögen, drückt sich ein Widerstandswille aus, der beweist, dass man sich noch nicht geschlagen gibt. Die bewegenden Gesprächsprotokolle von Henriette Schröder zeigen eines deutlich: Das Sich-Herrichten ist ein Teil des Überlebensmechanismus und ein Mittel gegen das Resignieren.

Besonders lesenswert ist das lange Interview mit Herta Müller: „Schönheit war damals politisch“. Sie geht weit über das Thema des Buches hinaus und behandelt das Frauenbild des Sowjet-Sozialismus, das sich in der Kleidung niederschlug und noch heute als „grauenhafte Übertreibung“ der russischen Mode und der Aufmachung russischer Frauen nachwirke. Müllers Überlegungen zur Ästhetik in Mangelgesellschaften sind ungemein erhellend.

Buchcover. Frau in einem Flüchtlingslager im Kosovo 1999.  Foto © Daniel Biskup

Buchcover. Junge Frau in einem Flüchtlingslager im Kosovo 1999.
Foto © Daniel Biskup

Das Buch ist sorgfältig gemacht, schade ist jedoch, dass die vielen Fotos nur in Schwarz-Weiß sind. Farbige Aufnahmen hätten die Aussage noch unterstrichen.

Henriette Schroeder: Ein Hauch von Lippenstift für die Würde. Weiblichkeit in Zeiten großer Not. Verlag Elisabeth Sandmann, München, 2014

 

Titelbild: Bei der britischen Luftabwehr, 1940. Foto © Ministry of Information / Imperial War Museum