Zu den besonderen Schätzen der an Kultur nicht eben armen Stadt Berlin gehört die Lipperheidesche Kostümbibliothek im Kulturforum in der Nähe des Potsdamer Platzes. Sie ist die weltweit größte Spezialsammlung zur Kulturgeschichte von Kleidung und Mode. Wer die Lipperheidesche kennt, weiß ihr Loblied zu singen – wie ich, die zu den regelmäßigen Besucherinnen zählt.

Die langjährige Leiterin Adelheid Rasche verlässt die Kostümbibliothek und geht an ein Museum in Nürnberg. Ihr Weggang war Anlass für ein Gespräch über die Bibliothek.

Adelheid Rasche beim Symposium Fashion Moments, 2015. Foto © Rose Wagner

Adelheid Rasche beim Symposium Fashion Moments, 2015. Foto © Rose Wagner

Die offizielle Bezeichnung lautet Sammlung Modebild – Lipperheidesche Kostümbibliothek. Sie enthält keine textilen Objekte, sondern ausschließlich Text- und Bildquellen. Alle Zeiten, alle Kontinente und alle Bereiche von Tracht, Kleidung und Kostüm werden abgedeckt: Arbeitskleidung, Uniformen, Festgewänder, Haute Couture, Tanzkostüme….einfach alles, so Adelheid Rasche.

Reiterwettkampf zu Nürnberg, Federzeichnung, Heldt’sches Trachenbuch, Nürnberg ca. 1560-1580. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin

Reiterwettkampf zu Nürnberg, Federzeichnung, Heldt’sches Trachenbuch, Nürnberg, ca. 1560-1580. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin

Den Grundstock trug Franz von Lipperheide (1838 bis 1906) zusammen. Der Buchhändler und Verleger von Modezeitschriften verfügte über das Wissen und das Geld, um eine exquisite Sammlung für Kostümwissenschaft anzulegen. Für Lipperheide war Kleidung ein wichtiger Ausdruck von Kultur.

Franz von Lipperheide im Studiensaal der Bibliothek , Ölgemälde von Franz Defregger, 1906. Foto © Rose Wagner

Franz von Lipperheide im Studiensaal der Bibliothek , Ölgemälde von Franz Defregger, 1906. Foto © Rose Wagner

Im Jahr 1899 übergab er seine Sammlung per Schenkungsvertrag den damaligen Königlichen Museen zu Berlin. Heute ist die Lipperheidesche Kostümbibliothek Teil der Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin. Durch Zukäufe und Ergänzungen ist der Bestand auf rund 45.000 Bücher, Zeitschriftenbände und Handschriften – die ältesten aus dem 16. Jahrhundert – angewachsen. Die graphische Sammlung umfasst mehr als 100.000 Einzelblätter mit Zeichnungen, Illustrationen und Fotografien sowie rund 900 Porträt- und Genre-Gemälde, die der leidenschaftliche Sammler unter kostümhistorischen Aspekten zusammentrug.

Albrecht Dürer, Porträt des Kardinals Albrecht von Brandenburg, Kupferstich, 1523. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin

Albrecht Dürer, Porträt des Kardinals Albrecht von Brandenburg, Kupferstich, 1523. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin

Dass die Salzburgerin Adelheid Rasche im Jahr 1990 – im Alter von 27 Jahren – die Leitung der Berliner Kostümbibliothek übernehmen konnte, ist eine Folge persönlicher Präferenzen und glücklicher Fügungen. Rasche hat in ihrer Heimatstadt und in Reims Kunstgeschichte und Romanische Sprachen studiert. Sie sagt von sich: Ich bin kulturhistorisch geeicht.

In der Lipperheideschen setzte sie bald eigene Akzente, denn der Umzug von der Jebenstraße – heute befindet sich dort das Museum für Fotografie – in den Neubau der Kunstbibliothek am Kulturforum stand an. Eine bessere Gelegenheit zur Sichtung vorhandener Bestände und zur Neuausrichtung als ein Umzug lässt sich kaum denken.

Rasche entschied sich für die Erforschung und stärkere Gewichtung der Modefotografie. Die Modefotografien in der Lipperheideschen waren bis dahin nach den Kategorien Damen, Herren, Kinder in chronologischer Reihenfolge abgelegt.

Atelier Becker und Maass, Mädchen mit Hüten von Arnold Müller, um 1921. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin

Atelier Becker und Maass, Mädchen mit Hüten von Arnold Müller, um 1921. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin

Dabei blieben wichtige Erkenntnisse blieben unberücksichtigt; Rasche entschloss sich, auch die Modeschöpfer, Fotografen, Fotomodelle, Bildmaße und Technik sowie die Texte auf der Rückseite zu erfassen.

Unbekannter Künstler, Mann mit Hut von Madaus und Tiebut, um 1934. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin

Unbekannter Künstler, Mann mit Hut von Madaus und Tiebut, um 1934. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin

Zumeist handelte es sich um Pressefotos. Allein für die Zeit vor 1945 waren es rund 5.000 Objekte.

Imre von Santho, Frau in Kleid von Behmer, 1936. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin

Imre von Santho, Frau in Kleid von Behmer, 1936.
Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin

Die Aufarbeitung der Fotosammlung schlug sich in Ausstellungen, Katalogen und Symposien nieder. Schon die erste Ausstellung im Jahr 1994 brachte Verborgenes ans Licht: Frühe Modefotografie Pariser Ateliers in der Lipperheideschen Kostümbibliothek. Die letzte Veranstaltung zu diesem Themenbereich war das Symposium Modefotografie im Jahr 2015 mit Vorträgen über die Geschichte der Modefotografie und die Schätze der Kostümbibliothek.

Die Stärkung der Fotografie bedeutete keine Abwendung von den anderen grafischen Formaten.

Jeanne Mammen, Frauen im Nachmittagskleid, Zeichnung mit Bleistift und Wasserfarbe um 1927. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin, Dietmar Katz

Jeanne Mammen, Frauen im Nachmittagskleid, Zeichnung mit Bleistift und Wasserfarbe um 1927. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin, Dietmar Katz

Im Jahr 2003 wurden in der weltweit ersten großen Ausstellung zur europäischen Modekarikatur der Neuzeit – Ridikül. Mode in der Karikatur – rund 180 Druckgrafiken aus eigenen Beständen gezeigt und der Gesamtbestand von über 800 Karikaturen digital erschlossen.

Staatshut und Schlafhaube, Karikatur, kolorierte Lithografie, 1848. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin

Staatshut und Schlafhaube, Karikatur, kolorierte Lithografie, 1848. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin

Durch das Internet haben sich in den letzten Jahrzehnten die Erwartungen an Bibliotheken und Museen gewandelt. Adelheid Rasche sagt: Eigentlich wird nur noch wahrgenommen, was digital vorhanden ist. Man kann die tollsten Dinge im Schrank haben, wenn er nicht digital geöffnet werden kann, wenigstens mit einem Teaser, dann wird man eines Tages nicht mehr wahrgenommen.

Fünfzehn Prozent – mehr als 10.000 Objekte – des grafischen Bildbestandes der Lipperheideschen sind bislang digital erschlossen; doch nicht alles wird digitalisiert werden. Dagegen sprechen der hohe Zeit- und Kostenaufwand und die Beachtung von Urheberrechten, die erst 70 Jahre nach Tod des Künstlers erlöschen. Das setzt Grenzen bei der Veröffentlichung von Bilddateien im Internet. Außerdem stellt sich die Frage der Relevanz; sollte wirklich jede Skizze eines längst vergessenen Modezeichners in einer Datenbank digital erschlossen werden?

Die Nutzung der Kostümbibliothek ist kostenlos; die gewünschten Objekte müssen vorab schriftlich bestellt werden – das ist sowohl online möglich als auch kurzfristig direkt im Studiensaal.

Studiensaal. Foto © Rose Wagner

Studiensaal. Foto © Rose Wagner

Besucherinnen können sich historische Zeitschriftenbände kommen lassen wie die Gazette du Bon Ton (1912-1925), das Journal des Luxus und der Moden (1786-1827) und La Caricature (1830-1843) oder die neuesten Branchennachrichten und internationalen Modezeitschriften aus dem Präsenzbestand durchblättern.

Modezeichnung von Georges Lepape in der Gazette du Bon Temps, Juni 1913. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin, Dietmar Katz

Modezeichnung von Georges Lepape in der Gazette du Bon Temps, Juni 1913. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin, Dietmar Katz

Die Kostümbibliothek hat 80 Fach-Journale und Publikumszeitschriften abonniert – von der Fashion Theory bis zur Brigitte –, in denen sich die aktuellen Entwicklungen und Diskussionen in der Mode niederschlagen.

Die Nutzungsmotive der Kostümbibliothek haben sich seit der Gründung vor fast 120 Jahren verändert. Anfangs ging es vor allem darum, Kunsthandwerkern, Veranstaltern von Umzügen, Theatermachern und Malern konkrete Quellen und Vorlagen für das historisch korrekte Nacharbeiten bestimmter Kleidungstypen zur Verfügung zu stellen. Das spielt kaum noch eine Rolle. Es sind heute hauptsächlich Fachforscherinnen und Menschen, die für die exakte Datierung von Gemälden Hilfe bei der Kostümgeschichte suchen. Die Zahl der Besucher ist leicht rückläufig; für viele Zwecke reicht das digitale Angebot und macht den persönlichen Besuch der Bibliothek entbehrlich.

Englische Hutmoden, Radierung von Daniel Nikolaus Chodowiecki, Göttinger Taschenkalender, Hrsg. Georg Friedrich Lichtenberg, 1778. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin

Englische Hutmoden, Radierung von Daniel Nikolaus Chodowiecki, Göttinger Taschenkalender, Hrsg. Georg Friedrich Lichtenberg, 1778. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin

Die Ausstellungen der Lipperheideschen gehören zu den besonderen Ereignissen der Berliner Modeszene. Der größte Publikumserfolg – was die Anzahl der Besucher betrifft – war mit 25.000 Besuchern die Ausstellung Christian Dior und Deutschland, 1947 bis 1957. Für eine Einrichtung ihrer Größe und ihres begrenzten Werbe-Etats, ist das ein enormer Erfolg für die Kostümbibliothek.

Mit Ausstellungen und Vortragsveranstaltungen stellte Rasche die Lipperheidesche Kostümbibliothek und Modethemen in einen größeren kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhang.

Gruppen-Selfie bei der Eröffnung der Ausstellung Krieg und Kleider, 2014. Foto © Rose Wagner

Gruppen-Selfie bei der Eröffnung der Ausstellung Krieg und Kleider, 2014. Foto © Rose Wagner

In der seit 2003 laufenden Vortragsreihe Mode Thema Mode sprachen Dutzende von Referentinnen und Referenten zu unterschiedlichen Themen der Kleidungsforschung. Diese Vortragsreihe bot einer interessierten Öffentlichkeit die Gelegenheit regelmäßiger Treffen, zu denen sich ein – im Sinne von Jürgen Habermas – räsonierendes Publikum versammelte, das zur öffentlichen Diskussion über kulturelle und gesellschaftliche Aspekte beiträgt.

Die Nachricht vom Weggang Adelheid Rasches schlug unter den Nutzerinnen der Kostümbibliothek hohe Wellen, schienen doch Person und Institution eine geradezu unauflösliche Einheit zu bilden. Gelegentlich war sogar überbordend von der Lipperheidischen Kostümbibliothek die Rede – zum Amusement von Rasche, die von Freunden Heidi gerufen wird.

Anfang des Jahres 2017 übernimmt sie die Leitung der Sammlung Textilien, Kleidung und Schmuck des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. In den Süden möchte sie schon lange wieder zurück, und da gerade die schöne Stelle – so Rasche – frei wird, ist für sie der richtige Zeitpunkt für einen Wechsel gekommen.

Wie geht es mit der Kostümbibliothek weiter? Die Berliner Kulturpolitik ist unkalkulierbar. In der Schenkungsurkunde Franz Lipperheides vom 19. März 1892 heißt es: Ich wünsche, daß bei der künftigen Verwaltung der Sammlung die möglichste Nutzbarmachung derselben als oberster Grundsatz festgehalten werde. Das lässt hoffen.

 

Titelfoto: Ausschnitt aus dem ersten Titelblatt von Die Modenwelt, 1866,
herausgegeben von Franz von Lipperheide. Foto © Kunstbibliothek Staatliche Museen zu Berlin