Buchbesprechung

Barbara Vinken sieht es so: Der große Bruch kam mit der Französischen Revolution. Sie fegte die alten Kleiderordnungen hinweg, und die adeligen Männer streiften ihre straff sitzenden Strümpfe ab und stellten nicht länger ihre körperlichen Reize zur Schau. Kniebundhosen wurden abgelegt. Bevorzugtes Kleidungsstück wurde der Anzug, der bis heute die männliche Silhouette prägt. Mit dem Anzug wurde der Mann in seiner Kleidung modern und reihte sich in einen „Kollektivkörper“ ein, in dem klassenübergreifend eine Konvention für alle gilt. Männer vertun ihre Zeit nicht mehr vor dem Spiegel mit Überlegungen, was sie anziehen sollen.

Bei den Frauen ging und geht es komplizierter zu, wechselhafter, anachronistischer und mit viel „historistischem Recycling“. Wenn Barbara Vinken heute ihren Blick schweifen lässt, sieht sie überall Aufmerksamkeit erregende Frauenbeine.

Berlin, 2013. Foto © Rose Wagner

Die stecken in engen Hosen, in Leggings, in auffälligen Strümpfen, in langen oder in kurzen Stiefeln, in Shorts und in sehr kurzen Röcken. Sie sind unübersehbar inszeniert. So viel Bein haben Frauen noch nie gezeigt.

Rom 2013. Foto © Rose Wagner

Rom, 2013. Foto © Rose Wagner

„Die neuen Beine der Frauen entpuppen sich als die alten Beine der Männer“, da ist sich Barbara Vinken sicher. Die sexuelle Komponente sei dabei jedoch sekundär, weil das weibliche Geschlecht als Schamzone aus dem Blick geraten sei.

Paris, 2014. Foto © Rose Wagner

Paris, 2014. Foto © Rose Wagner

Das ist ‒ kurz gesagt ‒ die Hauptthese in Barbara Vinkens Buch „Angezogen. Das Geheimnis der Mode“.

Sie stellt weitere anregende Thesen auf. Unisex-Kleidung, die als Angleichung der Geschlechter und Aufhebung des erotischen Potentials von Mode gefeiert wird, stelle im Gegenteil eine Steigerung von Erotik dar, die durch das Sprengen herkömmlicher Gender-Vorstellungen bewirkt werde. Und sie behauptet, es gebe einen Orientalismus in der Mode, eine Unterwerfung unter das Unvernünftige, das Überflüssige und Dekadente, das aufregend befriedigend sei. Vielleicht ist Mode sogar Orientalismus?

Für Barbara Vinken verkörpert Michelle Obama mit ihren farbenfrohen modischen Inszenierungen und der Betonung ihrer Weiblichkeit und Körperlichkeit das Orientalische. Obamas künstliche Wimpern und Fingernägel hätten ihren Ursprung im Varieté und über den Umweg der schwarzen Kulturen den Weg in den Mainstream gefunden. Wenn sich eine emanzipierte Frau wie Michelle Obama so schmücke, zeige das, wie zeitgemäß vermeintlich Überholtes, Künstliches und einst Anstößiges zelebriert werden könne. Zusammen mit der maskulinen Anmutung ihrer trainierten Oberarme und ihren entschiedenen Bewegungen repräsentiere Michelle Obama modische Weiblichkeit auf der Höhe der Zeit. So wie Barack Obama mit seinen unauffälligen, dunkelblauen, schmalgeschnittenen Anzügen der Inbegriff des modern gekleideten Mannes sei. Sein Aufzug signalisiere, dass der Träger sich auf das Wesentliche konzentriert.

Das Buch von Barbara Vinken ist anregend, selbst wenn nicht jede These überzeugt. Sind es wirklich die „alten Beine der Männer“, die Frauen heute zur Schau stellen? Knüpft solcher Aufzug tatsächlich an vorrevolutionäre Zeiten an? Richtig ist die Beobachtung, dass heute viel mehr Frauen enge Hosen und sehr kurze Röcke tragen als jemals zuvor. Und es sind nicht nur die Jungen und Schlanken, die ihren Körper zur Schau stellen.

Berlin, 2012.  Foto © Rose Wagner

Berlin, 2012.
Foto © Rose Wagner

Frauen zeigen Beine, Hüften und Po. Männer zeigen ihren Oberkörper. Im Sommer sind Muscle Shirts bei Männern weit verbreitet. Geht es womöglich ganz allgemein ‒ bei Männern wie bei Frauen ‒ darum, „einen Körper zu zeigen, der im Idealfall trainiert, gestaltet oder sogar umgeformt ist? Um einen kulturellen Code, um Körperbeherrschung als eine Variante der Naturbeherrschung? Vielleicht ist der eigene Körper auch das Einzige, was sich vom Individuum in einer globalisierten Welt überhaupt noch beherrschen lässt.“ (Soziologin Herlinde Maindok in einer E-Mail)

Doch die Erwartung der Körperbeherrschung wird vielfach unterlaufen und eine eigensinnige und eigenwillige Aneignung praktiziert. In offenen Gesellschaften sind Mode und Kleidung demokratisiert wie nie zuvor. Und täglich wird die Frage von Geschmack, Zurschaustellung und Zumutbarkeit in aller Öffentlichkeit neu verhandelt.

Breslau, 2013.  Foto © Rose Wagner

Breslau, 2013.
Foto © Rose Wagner

Das Phänomen der betonten Beine ist zudem  nicht mehr ausschließlich auf Frauen beschränkt. Immer häufiger sind auch Männer in hautengen oder kurzen Hosen unterwegs. Und in der populären Trachtenmode zeigen mehr Männer ihre strammen Waden vor als jemals zuvor – jedenfalls in Deutschland

München, 2013. Foto © Rose Wagner

München, 2013. Foto © Rose Wagner

Barbara Vinken stößt mit ihren Thesen belebende Diskussionen und Überlegungen an. Spannend und inspirierend finde ich ihre Interpretationen der Shows und Kollektionen von Alexander McQueen und Martin Margiela. Da läuft sie zu glänzender Form auf. Die sehr ausführlichen Abhandlungen über die Klassiker der Modetheorie wären jedoch in einem Reader für ein Proseminar besser aufgehoben. Die Freude an der Lektüre wird auch beeinträchtigt, wenn das Fremdwörterlexikon zu Rate gezogen muss. Wer weiß schon, was eine „apotropäische Geste“ ist oder „tribadische Liebe“? Und Sätze wie „Die männliche Mode hat Transzendenz säkularisiert“ oder „Mode macht die etymologische Wurzel des Subjekts gegen alle Versuche der Emanzipation wahr“ sind nicht gerade vergnüglich zu lesen.

Schade auch, dass die zentrale These von den neuen Beinen der Frau, die die alten Beine der Männer sind, nicht mit Bildern illustriert wird. Insgesamt ist das Buch nicht ausreichend bebildert. In der Mitte des Buches befindet sich zwar eine Einheftung mit Abbildungen, doch es sind zu wenig, und sie befinden sich zudem am falschen Platz, nicht bei den Textpassagen,  auf die sie sich beziehen.

Dennoch: Das Buch ist anregend. Und nachdem ich es gelesen hatte, sah ich überall Beine, Beine, Beine.

Bamberg, 2013. Foto © Rose Wagner

Bamberg, 2013. Foto © Rose Wagner

„Angezogen. Das Geheimnis der Mode“ war für den Preis der Leipziger Buchmesse 2014 in der Kategorie Sachbuch nominiert.

Barbara Vinken.  Foto © Rose Wagner

Barbara Vinken.
Foto © Rose Wagner

Vinken, Barbara: Angezogen. Das Geheimnis der Mode. Stuttgart, Klett-Cotta, 2013. 255 S., 31 meist farb. Abb. ISBN 978-3-608-94625-3.

 Titelbild: Banyuls-sur-Mer, 2013. Foto © Rose Wagner
Dank für anregende Diskussionen an Gert K., Herlinde M., Brigitte W.